Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Rolltreppe tat. Niemand nahm sie besonders wahr. Wer achtet schon wirklich auf diese kahlgeschorenen Spinner? Sie tanzten zu dritt Frenchi entgegen. Und als sie ihn erreichten, trat ihm Fiskus ansatzlos zwischen die Beine. Wilfried riss ihm den Seesack von der Schulter und Gambit umarmte ihn. Er tanzte mit dem hilflosen Frenchi zur Brüstung, riss ihn aus der Drehung von den Füßen und warf ihn in das zehn Meter tiefere Parterre. Um die verknickte Gestalt bildete sich sofort eine Menschentraube. Es waren sogar zwei geknickte Gestalten. Das war ihre einzige Berechnung gewesen, dass nämlich alle auf den herabgestürzten Frenchi starren würden, nicht aber auf die Täter. Alles andere war spontan gewesen. Und dass Frenchi so freundlich war, im Herabstürzen Julio zu erschlagen, nahmen sie einfach als positive Wirkung ihrer konzentrierten geistigen Energie, die von vornherein auf das Gelingen des Unternehmens eingestellt war.
Sie tanzten konsequent weiter die Treppe hinauf und stiegen in den TEE Richtung Frankfurt. Erst im Zug trennten sie sich, zogen sich auf den Toiletten um und verwandelten sich innerhalb weniger Minuten in normale Bürger. Wilfried verpackte die Beutel mit dem Heroin in eine einfache schwarze Sporttasche. Das lindgrüne Gewand stopfte er sorgfältig daneben. Kurz hinter S. warf Wilfried den Seesack aus dem Fenster. Wilfried atmete, wie er es gelernt hatte. "Du wirst alles schaffen... alles." Wilfried entspannte sich. Er hatte alles geschafft, wie er es sich vorgenommen hatte. In K. stieg Wilfried aus. Fuhr mit Bussen über Land von Kleinstadt zu Kleinstadt. Bis 23.00 Uhr war noch viel Zeit. Um 20.00 Uhr entstieg er dem Bus am Hauptbahnhof. Aus der Telefonzelle rief er Angela an: "Ich hab's geschafft", überfiel er sie gleich.
"Hast du Arbeit gefunden?" , fragte sie mit ihre hübschen, aber nüchternen Stimme.
"Quatsch", rief Wilfried fröhlich in den Telefonhörer. "Ich habe eine Million in der Tasche, aber ich geb' sie gleich wieder ab."
"Warum gibst du sie ab?", fragte sie verständnislos.
"Ich gebe sie ab, weil ich sie nicht brauche", sagte Wilfried. "Verstehst Du mich?"
"Nein", antwortete Angela. "Ich verstehe Dich nicht. Ich könnte im Gegensatz zu dir eine Million ganz gut gebrauchen. Ich glaube, das ist es, was uns trennt."
"Ich glaube auch, dass uns das trennt", entgegnete Wilfried, immer noch mit sehr fröhlicher Stimme. Aber jetzt hatte er ein mulmiges Gefühl. Diese gewisse Leichtigkeit, mit der er dieses ganze Unternehmen durchgeführt hatte, verflog.
"Warum rufst du mich dann an?", fragte Angela, konsequent und folgerichtig wie immer.
"Ich habe dich lieb, trotz all dieser Unterschiede", antwortete Wilfried, nun schon deutlich kleinlaut.
"Bist du in Schwierigkeiten?", wollte Angela wissen.
"Nein", murmelte Wilfried. "Ich bin sehr, sehr glücklich."
"Können wir darüber bei Gelegenheit in Ruhe sprechen?", bat Angela eindringlich.
"Nein, das möchte ich nicht", sagte Wilfried. "Ich lebe jetzt dermaßen anders. Das kann ich kaum erklären."
"Wenn dein Glück keine Erklärungen verträgt", entgegnete Angela, "dann ist es aber wohl ein sehr zartes Pflänzchen."
Wilfried hängte abrupt ein. Wieder einmal hatte Angela es geschafft, dass er sich elend fühlte. Und natürlich hatte er auch falsch geatmet.
Wilfried machte sich zu Fuß zum Stadthafen auf. Als Kind hatte er oft dort gespielt. Ob Silberhaar das wusste? Wilfried konnte sich zwar nicht erinnern, das bewusst erzählt zu haben. Aber bei diesen wahnsinnigen Sessions verlor man ja leicht die Kontrolle und erzählte alles Mögliche.
Je mehr er sich dem Stadthafen, einem reinen Binnen - und Güterhafen näherte, desto mehr schien es, als verschlucke die Stadt die Menschen. Als er schließlich am ersten Hafenbecken stand, war er allein mit diesen riesigen Kranungetümen, den unglaublich großen Hallen und dieser öligen Dunkelheit. Wie sollte er den Domino nur finden? Dieses Gelände war ungeheuer groß. Hier warteten sicher zwanzig solcher Becken auf Schiffe und einsame Nachtbesucher.
Wilfried beruhigte sich selbst. Silberhaar hatte sicher an alles gedacht. Typisch, dachte er, ein Gespräch mit Angela, und schon fange ich an zu zweifeln. Plötzlich ging es wie ein Riss durch sein Bewusstsein. Ein ekelhaftes Gefühl glitt wie eine hässliche Schlange an seinen Magenwänden hoch. Gleichzeitig sah er in aller Deutlichkeit Silberhaar auf einem weißen Diwan liegen. Sigrid kniete auf ihm. Aber nicht allein dieses Bild
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