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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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Leben war begehrenswert wie eine schöne Frau. Einige Ewigkeiten später spürte Wilfried, wie die Bewegungen und die Berührungen langsam nachließen. Im Raum erhob sich trautes Gemurmel sanft zärtlicher Gespräche.
    "Wir werden gemeinsam lernen, die Weichen deines Lebens richtig zu stellen", hörte er den Mann mit dem abgründigen Blick leise sagen.
    "Es ist nur eine Frage des Bewusstseins. Du steckst voller Hemmungen, die dir antrainiert sind. Dazu kommen die riesigen Ansprüche, die in dein Herz implantiert wurden. Aber in Wirklichkeit bist du frei. Wenn du das begreifst und es ganz in dich aufnimmst, ja, mit deinem ganzen Körper diese Erkenntnis aufsaugst, wirst du alles schaffen. Hörst du: Alles!"
    Silberhaar lächelte Wilfried mit seinem unergründlichen Lächeln an und verschwand im Dämmerlicht, als hätten ihn die Wände verschluckt. Wilfried schloss selig die Augen. Er atmete tief. Es war doch unglaublich, wie sich sein Lebensgefühl gegenüber dem Morgen verändert hatte. Er spürte, wie sich Sigrid hinter ihn kniete und seinen Kopf sehr sanft umfasste. Wilfried ließ sich ganz los, und Sigrid wiegte ihn behutsam hin und her. Er ließ sich vollständig treiben. Die unendliche Freiheit des Kosmos war sein Meer, und er würde seine Segel hissen und nachsehen, ob dort hinten, hinter dem Horizont, Land läge oder die gräulichen Bestien hausten, wie sich die Bürger zuflüsterten. Wilfrieds Umzug in die Gütersloher Straße 144 vollzog sich eine Woche später eher beiläufig; eine logische Konsequenz innerer Gegebenheiten. Er hatte das deutliche Gefühl, in dieser einen Woche mehr gelernt zu haben als vorher in Jahren. Alles wirkte so logisch. Die Gruppe liebte ihn. Hier spielte er eine tragende Rolle. Die Gruppe um Silberhaar gab ihm das Gefühl, gebraucht zu werden. In der großen Gesellschaft war er nur einer von 3 Millionen Arbeitslosen, ein Randsiedler, ein mehr oder weniger verachteter Außenseiter. In der Gruppe brachte man ihm eine ganz deutlich spürbare Wertschätzung entgegen. Das setzte ganz ungeahnte Energien in ihm frei. Ob er zum Kochen eingeteilt war, die Toiletten putzte, für die Gruppe arbeitete oder stahl. Alles war gleichwertig. Es diente der Gruppe, es wurde mit Zuwendung und Aufmerksamkeit honoriert.
    Und doch... er schlitterte nicht mit Haut und Haaren in diese Gruppenmoral, nicht gänzlich ohne Zweifel. Da war immer noch die besagte leise Stimme, die ihm in stillen Nächten immer mal wieder zuflüsterte, dass dies alles gar nicht wahr sein könne, dass dies alles zu schön sei, um wahr zu sein. Schon wie sie miteinander sprachen, dieses dauernde: ich fühle...ich empfinde... heute krieg' ich dich nicht mit...du kommst so schwach 'rüber. Aber dies alles war ernst gemeint. Es war doch ernst gemeint? Oder diese magischen Sessions. Die gnadenlosen persönlichen Ergründungen, die schwarzen Verfluchungen gegen ausbeuterische Organisationen oder ihre Vertreter. Mehr als einmal hatte Wilfried kalten Schweiß auf der Stirn stehen, wenn Puppen durchbohrt wurden und einige Tage später der Tod der so symbolisierten Person ekstatisch gefeiert wurde. Und dann, die immer wiederkehrende Suggestion: "Du wirst alles schaffen, alles!"
    Auch diese Fixierung auf Silberhaar ging Wilfried zunächst gegen den Strich. Ihm war im Grunde jede Anerkennung von Autorität zuwider. Aber, zum Teufel, wenn jemand richtige Autorität hatte, dann war das dieser dunkeläugige Typ, der den Durchblick hatte und der mit dieser Mischung von Unergründlichkeit und Unberührtheit die Gruppe leitete. Anders wären diese MUT-Aktionen auch nicht denkbar gewesen. Sie basierten auf absolutem Gehorsam.
    Es war ein kalter Herbstabend, die Stadt hatte sich mit einer grauen, filzigen Decke zugedeckt, als Er wieder die MUT-Briefe austeilte. Zuerst warf er die Lose, kleine kunstvoll geschnitzte Knochenstückchen. Das schwarzrote Los fiel auf Wilfried. Schwarzrot bedeutete MUT. Silberhaar überreichte Wilfried einen ebenfalls schwarzroten Briefumschlag. Wilfried nahm ihn würdevoll entgegen. Sie sahen sich an. Kosmische Kraft entströmte Silberhaars Augen und verstärkte Wilfrieds nur menschliche Energie mit einem heißen Strom. In dem Augenblick, als Wilfried unter diesem Ansturm archaischer Kräfte zu schwanken begann, wandte ER sich ab. Die MUT-Zeremonie wurde mit einem Energierad zu Ende gebracht, bei dem alle Teilnehmer auf dem Boden lagen wie die Speichen eines Rades. Die Energiekonzentration bei dieser Übung war

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