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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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Leben aus. Du wirst es schon noch spüren. Es ist, als würden sie alle schönen Gefühle zum Erstarren bringen."
    "Warum lebst du dann hier?" , fragte der Wanderer.
    "Ich weiß es nicht", antwortete Evanesco nachdenklich. "Ich fühle mich so leer. Ich glaube, ich wäre dem normalen Leben gar nicht mehr gewachsen. Ich stehe schon mit einem Bein im Grab. Ich krieg das Bein nicht mehr heraus. So viele von uns sind nun schon in der Erde. Es zieht mich hinab."
    Marius schüttelte den Kopf. Die dürre Gestalt murmelte noch einiges Unverständliche vor sich hin, während sie den Tee an den Tisch trug. Sie hatten kaum die erste Tasse Tee getrunken, als Evanesco sich zum Schlafen zurückzog und dem Wanderer bedeutete, er solle mit der Küchenbank vorliebnehmen. Ehe sich Marius sich recht versah, war er in dem fremden Raum mit der Möwe allein. Kopfschüttelnd nahm er sich noch etwas Tee nach und sah durch die beschlagenen kleinen Scheiben in die Nacht hinaus. So sehr dunkel war sie nicht. Ein voller Mond hing über dem Hochwald und tauchte alles in blausilbrige Farbe.
    Da traf ein blendender Lichtreflex Marius' Augen. Seine Quelle schien irgendwo zwischen den Bäumen zu liegen. Sofort erwachte des Wanderers Neugier und daneben eine Regung, die jeder Einsame oft, wenn vielleicht auch verschwommen und unklar oder gar unterdrückt, mit sich herumträgt: die Sehnsucht nach einem anderen Lebewesen. Und Licht bedeutet immer Leben. Besonders im Winter.
    Marius ließ die Möwe auf seinen linken Unterarm hüpfen und trat aus der Küche vor das Haus. Er stapfte um Evanescos Heimstatt herum. Einen Augenblick verharrte der Wanderer unschlüssig. Sollte er den Schutz des Hauses verlassen? Sollte er Evanescos eindringliche Warnungen in den Wind schlagen?
    Aber dann machte er sich innerlich frei. Das Licht schien doch so nah. Da spürte er wie die Möwe sich regte. Ihre Krallen drangen tief in seinen Ärmel, dann aber flatterte sie mit den Flügeln und erhob sich in die Nachtluft. Marius hatte den Eindruck, dass sie auf das Licht zuflog. Er folgte der Straße und dem Damm, der durch das Moor führte. Dann öffnete sich der Wald, und die Möwe kehrte zurück und setzte sich wieder auf seinen Arm.
    .So nah, wie es ihm beim Blick aus Evanescos Haus geschienen hatte, war das Licht nicht. Denn hinter diesem ersten Wald lag noch ein Wald, und langsam wurde es dem Wanderer immer kälter. Der Nachtwind schnitt ihm durch die Kleidung. Der Boden zog sich jetzt nicht mehr in ebener Steigung unter den Bäumen hin. Er gewann vielmehr ein zerklüftetes Profil. Tiefe Wellen, Schluchten hatten sich hier in die Erde eingegraben, frästen sich bis in das Dunkel des undurchdringlichen Urwaldes. Narrte ihn das Licht? Wanderte es wie er selbst? Trotz aller Bemühungen hatte er keineswegs das Gefühl, ihm näher zu kommen. Immer wieder verschwand es für Augenblicke. Jedoch, wenn er weiterging, erschien es ihm wieder. Ein Irrlicht? Nun sah er es wieder deutlich. Silberglänzend, kalt, irgendwie fern bei all seiner Intensität. Jetzt schien es seinen Platz zu halten.
    Marius trat in eine Schlucht ein, deren Wände sich zunächst weich aufwarfen. Aber er spürte, wie ihn der Weg zu seinen Füßen immer steiler bergab führte. Schließlich sah er von unten den Rand der Schlucht wie abgeschnitten. Wie hatte er das Licht von oben sehen können?
    Aber er wusste schon im gleichen Moment, als in ihm diese Frage entstand, dass sie falsch gestellt war. Dieses Licht war ein besonderes Licht. Kein Standlicht, kein Irrlicht, sondern ein Licht, das die Aufgabe hatte, ihn ganz zielbewusst zu führen.
    Die Schlucht wurde deutlich tiefer. Das blausilberne Nachtlicht verließ Marius, und unter seinen Schritten knirschte kein Schnee mehr. Nur die lähmende Kälte wich nicht. Das Licht vor ihm schien ihm jetzt klarer, obwohl er immer noch nicht sagen konnte, wie weit es wirklich von ihm entfernt war, geschweige denn, wie etwa seine Quelle beschaffen wäre. Das Silberlicht, das ihn bis hierher geführt hatte, bekam kleine Ableger. Rechts und links an den Wänden der Schlucht begann es kalt aufzuflammen. Die Wände der Schlucht wuchsen über ihm zusammen. Seine Schritte begannen zu hallen. Das Licht vor ihm brach sich an einer fernen Gestalt. Marius stockte der Atem in der plötzlichen Erkenntnis, dass dort jemand auf ihn wartete. In diesem Augenblick erhob sich die Möwe in die Luft und verließ ihn mit weiten Flügelschlägen.
    Das Licht hinter der schmalen Gestalt brach sich an

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