Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
verschaffte Wilfried das schlimme Gefühl im Magen. Sie schienen über ihn zu sprechen und zu lachen.
Der Domino stand keine fünfzig Schritte von ihm entfernt breitbeinig auf der Betontrasse. Wilfried ging auf ihn zu und unterdrückte jedes Gefühl der Angst. Er atmete es aus. Das Kostüm des Dominos glänzte schwarz mit roten Ranken darauf. Seide. Sein Gesicht erschien Wilfried wie ein gähnendes Loch. Wahrscheinlich trug der Domino eine schwarze Maske. Wilfried versuchte einen lockeren Ton anzuschlagen, als er sagte: "Ihr habt mir wohl nicht zugetraut, das Zeug selbst zu vernichten?"
"... übergibst sie am gleichen Tag um 23 Uhr dem Domino am Stadthafen ohne etwas zu fragen oder zu sagen", hallten die Worte des MUT-Briefes in Wilfried wieder.
Absolute Stille war die Antwort. Der Domino streckte Wilfried die linke Hand entgegen. Das irritierte Wilfried irgendwie. Wenn er selbst nach einer Million fassen würde, nähme er gewiss die rechte Hand. War der Domino vielleicht Linkshänder? Sein Misstrauen war geweckt, und prompt atmete er falsch. Er legte dem Domino die Henkel der Sporttasche in die linke Hand.
Der rechte Arm des Domino beschrieb augenblicklich einen kurzen Bogen, die Stahlfeder des Totschlägers bog sich durch die Kraft des Schlages nach hinten, um dann die Eisenkugel an ihrem Ende mit voller Wucht an Wilfrieds Kopf zu schleudern. Aber der stand nicht mehr dort, wo er gerade noch gestanden hatte. Wilfried war, wenn auch falsch atmend, einen schnellen Schritt rückwärts gesprungen. Der Totschläger schwang ins Leere. Wilfried stieß einen schrecklichen Schrei aus, den Schrei des Verratenen. Dann rannte er mit einer Geschwindigkeit los, die es allen Dominos der Welt unmöglich gemacht hätte, ihn noch einmal zu erreichen. Als er keinen Verfolger gewahrte, kroch Wilfried in eine der Riesenhallen, wo er eine unruhige, ja entsetzliche Nacht verbrachte. Es gab dort Ratten und sehr seltsame Geräusche. Erst in der vollen Helligkeit des nächsten Tages gelang es ihm, seine Angst zu überwinden und sich auf den Weg in die Gütersloher Straße 144 zu machen. Unterwegs machte er in einem Café Rast, frühstückte und ließ sich von der freundlichen Kellnerin einen Block und einen Kuli geben. Wilfried schrieb alles auf. Für Angela? Die Zettel steckte er in seine Brusttasche. Irgendwie beruhigte ihn das.
Eine halbe Stunde später erreichte er sein Ziel. In der Gütersloherstr. 144 fand er nichts und niemanden mehr. Völlig perplex stand Wilfried in den leeren Räumen, in denen er so wichtige Erlebnisse gehabt hatte. Kein Mensch, kein Möbel war zurückgeblieben. Nur ein Telefon stand mitten im Saal. Es klingelte. Nach dem dritten Klingeln konnte Wilfried nicht mehr widerstehen und nahm ab.
"Hallo!", meldete er sich.
"Bist du es, Wilfried?" , fragte Sigrids Stimme.
"Ja", sagte Wilfried. " Auch wenn es dich vielleicht ein wenig überrascht, ich bin es."
"Ich hatte es so sehr gehofft", hörte er Sigrids Stimme sagen. "Gambit und Fiskus hat es nämlich erwischt. Sie sind von Frenchis Leuten erschossen worden."
"Das ist doch nicht möglich", brachte Wilfried hervor.
"Ja, deshalb sind wir doch alle ausgezogen. Komm, lass uns in Ruhe darüber sprechen", bot Sigrid an.
Schon wieder eine, die in Ruhe mit mir sprechen will, dachte Wilfried. Die Welt zerbricht, und sie wollen in Ruhe reden!
"Gerne", sagte Wilfried. "Wo finde ich dich denn?"
"Geh' einfach die Gütersloher Straße rechts runter. Ich komme dir entgegen. O.K.?" , versicherte sich Sigrid.
"In Ordnung", log Wilfried, denn nichts war in Ordnung. Er legte auf und war froh, wieder ans Tageslicht zu gelangen. Schon nach ein paar Schritten kam ihm Sigrid entgegen und flog ihm in die Arme. Sie sagte nichts.
"Dabei hat doch auf dem Bahnhof alles geklappt", begann Wilfried. "Aber dieser Domino..."
"Aber dieser Domino? ", echote Sigrid.
"Der Typ wollte mich umbringen, als ich ihm das Zeug übergab", stieß Wilfried hervor.
"Bist du ganz sicher?"
"Ich bin ganz sicher."
"Und was hat das zu bedeuten?"
"Das bedeutet, dass Silberhaar ein mieses Miststück ist", sagte Wilfried und sah Sigrid jetzt ganz genau an. Sie standen keine zehn Schritte von der Bushaltestelle entfernt. Dann hupte ein Auto. Wilfried wurde eine Sekunde abgelenkt. Der Bus fuhr heran, sehr dicht an der Bordsteinkante. Sigrid stieß Wilfried beide Hände hart vor die Brust. Wilfried verlor das Gleichgewicht, stolperte auf die Fahrbahn und fiel auf die Knie. Der Busfahrer hatte nicht die
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