Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
geringste Chance auszuweichen. Es gab ein seltsames Geräusch, als der Bus Wilfried überfuhr. Sigrid wich langsam zurück. Passanten drängelten sich an ihr vorbei, der blutigen Schleifspur nach. Dann wandte sie sich endgültig ab und ging weiter die Gütersloher Straße entlang. Wie in Trance zog sie ihren MUT-Brief aus der Tasche und zerriss ihn in kleine Schnipsel, überließ sie dem kalten Herbstwind.
DU SCHAFFST ALLES... ALLES... Eigentlich sollte sie sich jetzt befreit fühlen. Aber sie fühlte sich nicht befreit. Sie fühlte sich elend und müde. DU SCHAFFST ALLES... ALLES... hämmerte es in ihr. Sigrid wartete auf den nächsten Bus.
Der Wanderer
Am späten Nachmittag stieß Marius, der Wanderer, plötzlich auf eine Möwe. Sie lag zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche auf der Seite und rührte sich nicht. Marius wurde traurig. Er nahm die Möwe zart in seine Hände und spürte wie sie atmete. Vorsichtig bettete er sie in seine grauleinene Umhängetasche.
Als die Sonne die Wipfel der Bäume berührte, erblickte Marius eine Handvoll Häuser im Tal. Die kamen ihm gerade recht. Er brauchte ein Quartier für die Nacht. Der Wanderer folgte dem undeutlichen Weg, der ihn aus dem Wald heraus und über eine Art Damm führte. Dieser Damm erhob sich über eine ausgedehnte Moor- und Sumpflandschaft. Giftgrüner Nebel drang aus dem stinkenden nassen Boden. Eine Windböe trieb Nebelfahnen aus dem Sumpf über den Damm. Marius konnte ihnen nicht mehr ausweichen. Der Nebel brannte in seinen Augen und den Lungen wie Säure. Marius begann zu laufen. Rasch durchquerte er die Nebelwände und stand unvermittelt vor dem verfallenden Ortsschild. UNDARF stand darauf. Sonst nichts. Das Schild schien sehr alt zu sein. Marius musste husten. Er spürte die zersetzende Wirkung des Nebels immer noch. Ob die Möwe auch in diesen gefährlichen Dunst geraten war? Die Sonne verschwand immer mehr hinter dem Horizont. Der Wanderer betrat den kleinen Ort und schlenderte an den alten Häusern vorbei. Das Dorf machte einen sichtlich unbewohnten Eindruck. Dann hörte er das Lachen aus der Dämmerung. Die Häuser schienen zu lachen. Da flog krachend ein Laden auf. Ein Gesicht sah den Wanderer an, so leer, als seien seine Züge ausgewischt worden.
"Herzlich willkommen, hübscher Wanderer!" , hörte er eine schrille Stimme rufen. "Schön, dass wieder neues Leben in Undarf eintrifft. Sehr schön."
Ein großes Loch tat sich in dem Gesicht auf und jenes Lachen scholl heraus.
"Danke für den freundlichen Gruß!", entfuhr es Marius.
"Und nun komm von der Straße!" , forderte ihn das leere Gesicht auf. "Es ist nicht gut, des Nachts außer Haus zu sein in Undarf."
Wieder dieses schreckliche Lachen.
Der Wanderer trat in das alte Haus. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Sein Blick fiel auf Stühle und Tische, auf Uhren und Vorhänge, wie sie vor hundert Jahren gebräuchlich gewesen sein mochten.
"Ich habe einen Tee aufgeschüttet", sagte das leere Gesicht nun wesentlich freundlicher. Marius betrachtete diese spindeldürre Gestalt, die mit weißen Tüchern eingehüllt war wie eine Mumie. Sie sprach mit sehr hoher Stimme.
"Nimm Platz, und wir trinken einen Tee zusammen", sagte das leere Gesicht. Marius setzte sich und holte die Möwe ganz sanft aus der Umhängetasche, um sie auf seinen Schoß zu setzen. Sie schien immer noch sehr schwach, aber sie lebte.
"Ich bin Evanesco", stellte sich das leere Gesicht vor.
"Lebst du schon lange hier?", wollte der Wanderer wissen.
Evanesco kicherte: "Sehr, sehr lange."
"Warum ist es nicht gut, im Dunkeln draußen zu sein?", bohrte Marius weiter und begann die Möwe zu streicheln.
"Hast du den Nebel bemerkt?" , entgegnete Evanesco.
"Natürlich! Mich schmerzen immer noch die Lungen, wenn ich nur
daran denke", gab Marius zurück.
"Der Nebel ist der stinkende Atem der Tenebros. Keiner weiß genau, um was für Ungeheuer es sich handelt. Aber ihr Atem ist giftig, wie du bemerkt hast. Wir wissen nur, dass sie unter der Erde leben. Und des Nachts holen sie sich alles, was lebt", erklärte Evanesco.
"Bist du ihnen schon mal direkt begegnet?" , fragte der Wanderer neugierig.
"Nein!" , seufzte Evanesco. "Jedenfalls habe ich nichts davon bemerkt. Aber du kannst mir ruhig glauben. Einstmals war Undarf ein schönes Dorf. Dann aber erwachten die Tenebros und begannen ihre grausamen Geschäfte. Nicht nur, dass Menschen und Tiere spurlos verschwanden. Sie übten auch so eine bedrückende Wirkung auf alles
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