Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Mal hier?"
"Ich bin zum ersten Mal hier, und ich heiße Wilfried", antwortete er.
Sigrid sah ihn lange und intensiv an, beinahe durchdringend. Sofort wurde er wieder unsicher. Er war es nicht gewöhnt, dass Frauen ihn so ansahen.
"Tja, ich habe da ein paar kleinere Probleme", begann er, Haltung bewahrend.
"Die lass stecken", unterbrach ihn Sigrid. "Das kommt später. Lass uns doch einfach mal fühlen, wie wir aufeinander wirken."
Sie setzte sich in ihrem Sessel etwas auf, so dass Wilfried ihr Gesicht ganz dicht vor seinem wahrnahm (Oh, Mann...).
Sie roch nach Vanille. Wilfried bekam fast einen black out, ein Schneegestöber auf dem inneren Bildschirm. Er begann ein wenig zu zittern (Oh, Mann...).
Sigrid lächelte ihn an. Sie hatte seine Unruhe wahrgenommen. Er konnte es in ihren Augen sehen. Der Mund war für ihn nicht zu sehen, so nahe waren sie sich. Dann lehnte sie sich entspannt zurück.
"Was hast du gefühlt?", fragte sie ihn freundlich.
"Schneegestöber", sagte Wilfried.
"Ich habe dein Schneegestöber auch gefühlt", bestätigte Sigrid. "Aber ich habe mich auch sehr sicher und geborgen gefühlt. Ich glaube, du bist in Ordnung."
Oben im Flur wurden Schritte laut. Türen öffneten sich und wurden wieder geschlossen.
"Es geht los", sagte Sigrid. Sie erhob sich und wandte sich der Treppe zu. Wilfried stapfte mit etwas steifen Beinen hinter ihr her. Er fühlte sich jetzt sehr aufgeregt, fast aufgelöst.
Im ersten Stock trat Sigrid vor ihm durch eine hohe, doppelflügelige Tür in eine Art Saal, dessen Boden mit schadhaftem Parkett belegt war. Es gab kein Mobiliar. Ein paar Decken lagen herum. Etwa zwanzig junge Menschen krochen über das Parkett oder saßen auf Decken. Gesprochen wurde kein Wort. Sigrid ging bis etwa in die Mitte des Saales und ließ sich sehr gelenkig auf dem Boden nieder. Wilfried versuchte es ihr nachzutun. Es war sehr ungewohnt. Er öffnete den Mund, um Sigrid zu fragen, was jetzt ablief. Aber sie legte nur ihren schlanken Zeigefinger auf die schönen Lippen und bedeutete ihm zu schweigen.
Wilfried schwieg. Eine stille Viertelstunde verstrich. Wahrscheinlich noch eine weitere. Das Zittern setzte in Wilfrieds Rückgrat wieder ein. Verstohlen sah er sich in dem Saal um und musterte die Anwesenden. Aber alle warteten gelassen, ohne Gespräch, ohne sichtbaren Kontakt zu den Nachbarn (Kontaktstunde!).
Als hätte es irgendein geheimes Startzeichen gegeben, begannen alle außer Wilfried wild zu klatschen. Sie sahen ihn an. Sie meinten ihn. Als der Applaus wieder etwas abebbte, sagte Sigrid zu ihm: "Du hast es geschafft."
"Geschafft?" , fragte Wilfried verständnislos.
"Ja, geschafft", erläuterte Sigrid. "Du hast ruhige Geduld gezeigt. Jeder, der zu uns gehören will, muss ruhig und geduldig sein. Gelassenheit, Bruder!" (Zu 'uns' gehören will!?)
Jetzt schwang die Doppelflügeltür auf und ein dunkel gekleideter silberhaariger Mann trat ein. Sofort war Wilfried von seinem Blick gefangen. Sehr dunkle Augen schauten ihn gerade an. Sehr dunkle Augen, in denen man sich verlieren konnte. Ein Blick wie ein Höhleneingang.
Der Mann breitete die Arme aus und sagte: "Willkommen in unserer Mitte. Wir freuen uns über jeden, der sein Leben ändern will und Geduld hat." Der Mann trat auf ihn zu und setzte sich ihm gegenüber. Er fragte: "Sind die Weichen deines Lebens falsch gestellt?"
Und Wilfried erzählte.
Es konnte sein, dass draußen schon die Sonne untergegangen war, da erzählte Wilfried immer noch. Und vor ihm saß Silberhaar und hörte ihm zu. Die anderen hatten um sie beide einen Kreis gebildet und hörten ebenfalls zu. Vielleicht ist das der schönste Augenblick in meinem Leben, dachte Wilfried: Alle hören mir zu. "Leg' dich auf den Rücken!"; sagte Silberhaar. Wilfried tat es, und die anderen rückten näher, berührten ihn ganz sachte. Unglaublich wohlige Gefühle durchliefen Wilfried. Ein Gefühl äußerster Liebesfähigkeit, empfindsamster Zärtlichkeit schien sie alle rauschhaft zu erfassen und nicht mehr loszulassen. Irgendwo in einem letzten ungeöffneten persönlichen Bewusstseinsstübchen meinte Wilfried ein leichtes Erstaunen festellen zu können. Darüber, dass er keine Hemmungen verspürte, sich fremden Menschen dermaßen intim auszuliefern. Und von irgendwoher drang die leise, kaum hörbare Warnung zu ihm, dass er eines Tages einmal dafür würde bezahlen müssen. Aber diese leise Warnung verflog wie eine vage Erinnerung unter dem Ansturm massiver Glücksgefühle. Das
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