Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
unglaublich.
Nach der Session öffnete Wilfried zeremoniell, das heißt kniend, den Brief. Der Brief enthielt die Worte: "Dein MUT: In der Meldorferstr. 834 wohnt der Dealer Franz Krysinski (Frenchi). Es ist notwendig, ihm den Stoff abzunehmen und ihn daran zu hindern, weitere Menschenleben zu zerstören. Am 21.11. um 11.00 Uhr bekommt Frenchi am Hauptbahnhof eine volle Lieferung. Du nimmst sie ihm ab und übergibst sie am gleichen Tag um 23 Uhr dem Domino im Stadthafen, ohne etwas zu fragen und ohne etwas zu sagen. Er wird den Stoff vernichten. Lass deine Phantasie und deine innere Kraft um dies alles kreisen. Suche dir aus der Gruppe zwei Helfer. Du hast vierzehn Tage Zeit, alles vorzubereiten."
Wilfried sah aus dem Fenster. Die graue Decke über der Stadt schien noch etwas dicker geworden zu sein. Irgendwo da draußen lief jetzt Frenchi herum und wusste nicht, dass er schon tot war, weil Silberhaar einen MUT -Brief ausgeteilt hatte. Stolz floss in Wilfrieds Herz wie starker Wein. Stolz auf seine Gruppe. Sie redeten nicht nur herum, sie handelten. Drogenhandel war eben eine beschissene Sache. So beschissen, dass die Vernichtung der Droge noch nicht einmal ihm selbst überlassen werden konnte. Nun hatte er also eine Verabredung mit Frenchi, nur dass Frenchi noch nichts davon wusste. Ein hässlicher Kerl übrigens. Ein Foto von ihm lag dem MUT-Brief bei.
Wilfried begann, seine Phantasie und seine Kraft um den Brief kreisen zu lassen. In aller Ruhe weihte er am nächsten Tag Gambit und Fiskus in die Sache ein. Mit diesen beiden wollte er das Ding drehen. Das Thema selbst wurde in der Gruppe nicht berührt, das war auch nicht üblich. Es ging um seinen MUT.
Am 21. November, um 10.55 Uhr, stand Frenchi mit ausgesucht schlechter Laune am Hauptbahnhof. Zwei Stunden seiner kostbaren Zeit hatte er gebraucht, um die Bullen abzuschütteln. Mit schmalen Augen beobachtete er die Szene am Bahnhof. Hier war alles normal, wenn ihn seine Augen nicht trogen. 10.59 Uhr betrat Elvis sein Beobachtungsfeld, der Bote aus M. Er trug eine Zeitung unter den Arm geklemmt und setzte sich kurz auf die Bank am Eingang, um dort diese Zeitung liegen zu lassen. Dann erhob er sich und verschwand in der Menschenmenge.
Frenchi setzte sich langsam in Bewegung. Er ließ sich ebenfalls auf der Bank nieder, tastete sachte nach der Zeitung und erfühlte durch das Papier den Schließfachschlüssel, der in ihr steckte. Schließlich rollte er entschlossen die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche seines Trenchcoats. Er ließ die Hand in der Tasche und angelte in dieser Deckung den Schlüssel aus der Zeitung heraus. Frenchi erhob sich wieder und drehte vorsichtshalber zwei Runden durch den Bahnhof. Alles blieb normal. Als er bei den Schließfächern ankam, zog er den Schlüssel aus der Tasche. Er las die Nummer 59 auf dem in den Schlüsselstahl eingelassenen Aluschildchen. Frenchi öffnete die Tür Nr. 59 und zog den Seesack heraus. Routiniert registrierte er ca. neun Kilo. Jetzt schlug sein Herz doch etwas schneller. Das war mehr als die übliche Wochenration für seinen Bezirk. Sehr viel mehr. Verstohlen s ah er sich nach Julio um, seinem Schatten. Julio stand schräg gegenüber Frenchi hinter einer der vielen Säulen. Nun kam der Rolltreppenabgang. Sie hatten das unzählige Male geübt. Frenchi fuhr die Rolltreppe zu den Bahnsteigen 1/2 hinauf, betrat dann aber nicht den Bahnsteig, sondern ging die breite Verteilerplattform entlang zu der Rolltreppe für die Bahnsteige 19/20, um dann wieder ins Parterre hinab zu fahren.
Währenddessen beobachtete ihn Julio von unten und konnte genau sehen, wer und ob jemand Frenchi verfolgte. So hatten sie es immer wieder gemacht, und so sollte es heute auch wieder abrollen. Frenchi fuhr die Rolltreppe hinauf und betrat den langen Absatz vor den Bahnsteigen. In diesem Augenblick überfiel ihn zum ersten Mal das Gefühl, dass nicht nur das Gewicht des Heroins heute nicht stimmte.
Die MUT-Gruppe war sich einig, dass sie dabei waren, eine absolut geniale Sache abzuziehen. Sie erlebten ihre grenzenlose Naivität als Genialität. Natürlich kannten sie Julio nicht. Sie ahnten noch nicht einmal seine Existenz. Sie fühlten einfach, nachdem sie eine halbe Stunde auf den Treppen zu den Gleisen 19/20 gewartet hatten, jetzt war es soweit. Als Verkleidung hatten sie ihre langen Roben gewählt, in schönem, leichtem Grün. Sie begannen in dem Augenblick zu singen und zu tanzen, als Frenchi seinen ersten Schritt von der
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