Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
ihr und ließ am weiten Bogen der Höhle unzählige Reflexe aufleuchten. Seltsam bizarre Gestalten und Formen gewannen erstarrtes Leben. Eis, wohin der Wanderer sah. Eis in allen geometrischen Formen und ihren kristallinen Abwandlungen, voller Spitzen und Ecken, bis hin zum feinsten Gespinst von Linien, als seien in dieser Höhle von zauberischer Hand unzählige magische Muster gewebt worden, an deren Sinn und geheimnisvoller Wirkung noch Generationen von Menschen würden arbeiten müssen ihr Leben lang.
Des Wanderers Schritt stockte. Intuitiv erfasste er, dass aller Sinn in diesen vielfältigen Mustern ihm wohl berückende Schönheit erschließen würde, aber keine Liebe. Die Kälte war beklemmend. Und doch ging er weiter, um sich der schlanken Gestalt zu nähern, die ihm jetzt wie von einem Lichterkranz geschmückt erschien. Sie trat ein wenig zur Seite. Offensichtlich war sie eine Frau. Das hellsilberne Licht umgoss ihr dunkles Haar, die schmalen fast kantigen Augenbrauen, die Augen, in die Marius jetzt sah und vermeinte, hineinzufallen, ihre zarte, beinahe durchsichtige Gestalt und erfüllte sie mit flackerndem Leben. Ihre wohlgeformten schmalen Lippen öffneten sich und entließen Worte mit fremdartigem Klang. Ihre Stimme war nicht laut, aber sehr hoch und schien die Eiskristalle an den Wänden zum Klirren zu bringen.
Die Frau des Eises reichte Marius ihre Hand, und er fasste nach ihr, griff zu, und spätestens in diesem Augenblick wusste er, dass in diesem Körper vor ihm kein Blut floss. Er verstand im Bruchteil eines Gedankenaugenblickes, was sie wollte, nämlich, dass er bei ihr blieb, wie das Eis der Gletscher ewig auf den Bergen blieb, ständig sich erneuernd: Eis zu Eis.
Der Wanderer fürchtete sich sehr vor ihrer Kälte, aber er dachte auch bei sich: In mir ist es so warm, vielleicht reicht es für zwei. So schlug er alle Bedenken in den Wind und er dachte: Wann wird mir je wieder solche Schönheit, umgeben von solchem Geheimnis begegnen?
Marius entschied sich, und die Frau des Eises zeigte ihm ihren Palast. Sie erklärte ihm die geheimnisvollen Muster der Kristalle. Marius wurde klar, dass dies alles einstmals Gefühle waren, von Menschen gefühlt, nun aber festgehalten in kristalliner Struktur, opalisierenden Farben und einer Temperatur unterhalb des Gefrierpunktes. Tiefgefrorene Gefühle. Die Höhlen, in denen sie aufbewahrt wurden, waren thematisch geordnet. Und es brauchte wirklich nicht über den Türeingängen verzeichnet werden, welche Gefühle dort jeweils gelagert wurden. Marius spürte sie sofort. Selbst in gefrorenem Zustand hatten die Gefühle ihre ganz eigenen Ausstrahlungen.
In ihrem Palast verfügte die Frau des Eises nur über einen einzigen warmen Raum. Sie führte den Wanderer nach dieser ersten Besichtigung dorthin, wohl wissend, dass er der Wärme bedurfte, um nicht sterben zu müssen. Es ging einige Treppen nach oben. Der Wärmeraum stieß mit seiner Decke fast an die Oberfläche der Erde.
Der Raum war jetzt taghell. Das Licht fiel durch einen riesigen, übermannsgroßen Eiskristall von der Decke her in den Raum, erhellte und erwärmte ihn.
Endlich hatte Marius Gelegenheit, die Frau des Eises im Hellen zu betrachten. Nichts konnte ihr das gebündelte Sonnenlicht von ihrer unirdischen Schönheit nehmen. Allenfalls mochte es sein, dass dieses absolute Ebenmaß im Hellen den menschlichen Betrachter schmerzte. Und es wurde deutlich, dass sie das helle Licht nicht liebte. Vielleicht erinnerte sie Licht zu sehr an warmes Leben.
"Hier kannst du leben, dich erwärmen, wenn die ungewohnte Kälte des Palastes dich erschauern lässt", bot die Frau des Eises ihm an. "Was immer du brauchst, werde ich dir geben, zu essen, zu trinken, meine Liebe. Und wenn du Zerstreuung suchst, in diesem Palast findest du alles. Wenn du malen willst oder musizieren, so werden dir die nötigen Instrumente zur Verfügung stehen. Wenn du die Ideen berühmter Leute suchst oder ihre Gefühle, wenn du dich also bilden willst, es ist alles griffbereit da. In gefrorenem Zustand halten Ideen und Gefühle ewig."
Marius nickte zustimmend, obwohl er gar nicht richtig zugehört hatte. Hingegen hatte er sich dem Klang ihrer Stimme hingegeben, die wiederum nicht sehr laut war aber tief in ihn eindrang und ihn in einen seltsamen Zustand zwischen Wachen und Schlafen versetzte, ihn wehrlos machte. Während sie sprach, trat er immer näher an sie heran, bis er ganz dicht vor ihr stand. Er legte ganz sanft die Arme um
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