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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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Schwingung versetzen.
    Marius griff sich die Violine von der Wand und den Bogen, der daneben stand. Er begann zu spielen. Tatsächlich verstand er wenig davon. Jeder Musiklehrer wäre wohl davon gelaufen, wenn er ihn nun hätte spielen hören. Aber hier war jede Harmonielehre unangebracht. War nicht auch das Eis die schlichte Harmonie abgestimmter Kristallstrukturen, die hier im Palast alles zum Erstarren brachte? Marius aber wollte nichts erstarren lassen. Er wollte in Bewegung bringen, aufreißen, ja, zum Schmelzen bringen.
    Die Töne der Violine verdichteten sich in dem kleinen Raum gleichsam zu einer kritischen Masse. Marius spielte wie von Sinnen. Er spielte um sein Leben. Die Wellen der unharmonischen Klänge brandeten gegen die Wände, gegen die Decke. In dem Eiskristall erschien eine geringfügige, aber deutliche Veränderung des Lichtes. Als hätten sich die Wünsche nach Freiheit ihren Weg durch die kristallin harmonisierten Bahnen erzwungen und den Strahlen der Sonne von draußen den Weg ins Innere des Wärmeraumes erweitert.
    Und wieder und wieder: Veränderung. Dann ein mahlendes Knirschen.
    Kalte Tropfen fielen auf Marius kälteverzehrtes, wenngleich unter der Oberfläche der Haut hektisch glühendes Gesicht. Kein Zweifel, der Kristall begann zu schmelzen. Marius saß auf dem Bett direkt unter ihm und hielt es jetzt für angeraten, Platz zu machen. Gerade rechtzeitig. Der Schmelzprozess gewann an Stärke. Jetzt flossen ganze Lachen aus der Decke, strömten über das Bett auf den Fußboden, wo sie gleich wieder gefroren. Im Kristall zeigten sich erste feine, aber deutlich gezackte Risse, bis er mit ohrenbetäubendem Bersten aus seiner Fassung brach und das ganze Bett unter einem Berg von geborstenem Eis begrub.
    Marius erklomm mühsam den Berg zerbrochenen Eises und spähte in die Höhe. Er gewahrte einen schier endlos scheinenden Schacht, der ihn an einen Brunnen erinnerte. Marius blieb keine Zeit, Kräfte zu sammeln, denn die Tür des Wärmeraumes flog auf und die Tenebros glitten herein, herbeigelockt vom Lärm des berstenden Eises, bereit, ihn zu fassen und den Wanderer dem Reich der Kälte für immer zu erhalten. Bevor ihn jedoch ein kalter Griff erreichen konnte, war Marius mit aller ihm verbliebenen lebensgierigen Kraft in den Schacht hinaufgesprungen, presste seinen Rücken mit gespreizten Beinen an die Wand, bildete gewissermaßen eine menschliche Klammer im steinernen Rund. Indem er seine Ellbogen an die Wand drückte, gestattete er dem Rücken, eine Handbreit höher zu rutschen, den Füßen, einen neuen, höher gelegenen Halt zu suchen, bis er sich wieder mit den Füßen abstützen konnte und so fort.
    Diese Fortbewegungsart war den Tenebros naturgemäß verwehrt, da ihnen ihre innere kristalline Struktur solche menschlichen Verrenkungen nicht gestattete. Andererseits war der Schacht auch nicht breit genug, dass sie ihre Flügel hätten entfalten können. Einige Tenebros versuchten Marius jedoch mit ungeschickten Sprüngen zu erreichen, vielleicht, um ihm den Mut zur weiteren Fortsetzung seiner ungeheuren Anstrengung zu nehmen. Aber es war, als würde die körperliche Bewegung ihn weniger schwächen, als vielmehr seine Begeisterung erst richtig anfachen, die ihn ob seines Zieles erfasst hatte. Wie ein Hitzeschild wirkte es unter ihm und ließ alle Tenebros, die ihm zu nahe kamen, mit schmelzenden und brechenden Flügeln in die haltlose Tiefe des Schachtes stürzen. Drang da nicht alles, selbst den Felsen erschütternd die schrille Stimme der Frau des Eises zu ihm? Aber sie klang Marius schon wie aus weiter Ferne, und die Vibration des Felsens konnte ihn nicht mehr aufhalten.
    Er erklomm den Rand des Schachtes, geblendet von der Helligkeit des Tages. Wie Wärmespeere drangen die frische Luft und das helle Licht in Marius' entwöhnten Körper ein und erweckten in ihm die schwache Glut des Lebens zu flackernder Flamme. Wie um sich zu versichern, ohne die Angst leben zu dürfen, wieder der Kälte Knecht zu werden, umfasste er mit einer Hand die andere, um die Wärme des eigenen Blutes zu spüren. Der Wanderer fühlte sich so erleichtert, so unendlich erleichtert, dass ihn jetzt am Ende seiner Flucht beinahe noch seine Sinne verließen. Aber das Leben war zu nah. Plötzlich hörte er einen Flügelschlag und fürchtete schon, dass die Tenebros ihn erneut attackieren wollten. Aber es war die Möwe. Sie setzte sich auf seinen Arm Der Schwindel, der den Wanderer zu ergreifen drohte, schwand. Das Leben

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