Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
sie, umschloss ihre schmale kalte Gestalt, drückte sie an sich. Sie unterbrach ihr Sprechen. Ein Lächeln überflog ihr schönes Gesicht, wie eine zarte Brise einen stillen Teich zu kräuseln vermag. Ihr Lächeln spiegelte sich in Marius' hingebungsvollem, forschendem Blick. Aber das Lächeln blieb nicht. Marius spürte ihre Kälte in sich eindringen. Er versuchte ihr seine Wärme entgegen zu setzen. Ein lautloser Kampf schien sich zwischen diesen beiden Körpern abzuspielen, bis ihr Lächeln gänzlich verschwand und einem Ausdruck des Unbehagens Raum gab.
Die Frau des Eises löste die Umarmung. Kaum war die Distanz zwischen ihnen wieder hergestellt, die es seiner Wärme unmöglich machte, ihren Kältepanzer zu durchdringen, erschien ihr rätselhaftes Lächeln wieder. Marius fühlte sich verwundet. Er schauderte. Ihr Lächeln versöhnte ihn sofort wieder. Aber es machte ihn auch gleichzeitig misstrauisch.
Im Laufe der nächsten Tage und Wochen führte ihn die Frau des Eises in die Geheimnisse der Kälte ein. Unablässig sandte sie von ihrem Palast aus die Boten der Angst zu den Menschen. Mit federdünnen, durchsichtigen Eisschwingen verließen die Tenebros des Nachts die unterirdische Höhle und suchten sich ihr Ziel. Begegneten sie ihren Opfern im Freien, gelang es ihnen ohne Schwierigkeiten, sie durch ihr andauerndes Anfliegen in Panik zu bringen und schließlich in die Sümpfe zu jagen, wo sie spurlos versanken.
Manche aber, besonders die kräftigen, vitalen und phantasiereichen Menschen, trieben sie direkt in den Eispalast. Marius mochte nicht sehen, was dort mit ihnen geschah. Zurück blieben gefrorene Hüllen, die in riesigen Hallen ausgestellt waren. Dort standen sie wie Denkmäler, allerdings mit dieser gewissen gespenstischen Haltung einstmals lebendiger Wesen. Die Abbilder ihrer Kraft und ihrer Phantasie verzierten später die dafür vorgesehenen Räume. Die Tenebros drangen auch in die Häuser, flogen ihre Opfer an, wenn sie hilflos schliefen, setzten sich fast schwerelos auf ihre Herzen, einen kurzen Augenblick nur, der aber genügte, die erstarrende Kälte, die sie mit sich führten, tief im Herzen der Menschen zu versenken. Sie hinterließen dort einen weißen, erstarrten Fleck. An dieser Stelle schlug das Herz nicht mehr, konnte sich nicht mehr aus eigener Kraft warmes Leben zuführen, sondern gierte von nun an nach fremdem Leben, fremder Wärme. Von den Boten der Angst blieben nur ein paar kalte Tropfen auf der Haut des Menschen zurück, so dass er im Erwachen denken mochte, er habe im Schlafe geweint.
Das alles erschreckte Marius zutiefst. Zumal dies alles in einer beklemmenden Stille ablief. Kälteopfer schreien nicht. Marius fühlte sich den Tenebros gegenüber völlig machtlos. Aber da war auch diese seltsame Faszination in ihm oder vielmehr der Ehrgeiz, sich selbst nicht von diesem kalten Treiben unterkriegen zu lassen. Er war sich durchaus der Gefahr bewusst, in der er schwebte.
Schließlich konnte er sich keineswegs darüber sicher sein, ob die Frau des Eises von ihm zum warmen Leben erlöst werden wollte oder ob sie nicht vielmehr ihn in die Reihe ihrer Kälteopfer einreihen wollte, nur langsamer, als die anderen.
Die Tage im Eiskristallpalast flogen dahin wie Schatten. Marius tanzte ständig am Rande des Todes. Jedes Mal floh er kurz vor dem Erstarren in den Wärmeraum, um sich dort den wärmenden Strahlen des Deckenkristalles auszusetzen. Es gab ja auch so viel zu sehen. Sogar Bücher gab es mit hochfeinen, aus Spinnwebkristallen gepressten Seiten. Um sie umzublättern, musste Marius seinen entsetzlichen Widerwillen unterdrücken und einen der Tenebros herbeiordern, da die Blätter selbst unter der leichtesten Berührung seiner durchbluteten Hände sofort geschmolzen wären.
Ein Tag ging in den anderen über. Es hatte etwas von einer Floßfahrt, in der man immer schneller flussabwärts stürzt, bis man die einzelnen Formen und Farben des Wassers nicht mehr wahrnehmen kann. Sie zerfließen vielmehr zu einer explodierenden, mitreißenden Farborgie, die anzusehen süchtig macht. Marius entging es, wie schnell ihn seine Kräfte verließen, zumal nichts, aber auch gar nichts verlangt wurde, was einen größeren Aufwand körperlicher Kraft nötig gemacht hätte. Auch die Frau des Eises forderte nicht seine körperliche Kraft. Ganz im Gegenteil schienen ihr kräftigere Berührungen unangenehm zu sein. Sie liebte, wenn überhaupt, die überzarten Berührungen, den Hauch, wie wenn Schnee sich
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