Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Zeit verging, arbeitete für den dunklen Gebieter, und Jaryn hatte nicht einmal den Anfang eines einzigen Fadens zu fassen bekommen. Er wusste lediglich, dass er den Übeltäter nicht in den Schriften finden würde. Nach so vielen Tagen musste er sich endlich eingestehen, dass das Aktenstudium vergeblich war, dass er nunmehr den behaglichen Schutz des Sonnentempels aufgeben und sich dem Leben draußen stellen musste.
Er musste Auskünfte einholen bei den Menschen, ihnen ihr Wissen abringen, wie er es den Büchern abrang. Aber die Bücher waren Dinge, sie offenbarten sich ihm ohne Widerstand. Nun musste er, der gewöhnlich gefragt wurde, selbst Fragen stellen: freundlich bittend, sonst könnte man ihm die Antworten verweigern. Dann musste er zum Nächsten gehen, immer gewärtig, abermals abgewiesen zu werden. Ungeduld oder gar Zorn durfte er sich nicht erlauben. Widerwärtigkeiten des niederen Volks musste er still ertragen und stets aufs Neue den Vorstoß wagen, durfte niemals nachlassen, denn er musste den Mann unbedingt finden. Aber auch klug musste er seine Fragen stellen, denn dass jemand Razoreths Gefolgsmann suchte, durfte sich nicht herumsprechen. Deshalb konnte er seine Fragen auch nicht als Sonnenpriester stellen.
Wenn er ihm begegnete, würde er es spüren, hatte Anamarna gesagt, aber dazu musste er ihm persönlich begegnen. Hielte sich der Betreffende etwa in Drienmor auf, dann konnte er nicht erwarten, ihn in Margan zu treffen. Aber wo sollte er die erste Spur aufnehmen? Immer wieder kamen ihm dabei zwei Örtlichkeiten in den Sinn: die Umgebung des Hofes und der Mondtempel. Wo mochte das Böse sich verkriechen, wo Unterschlupf suchen? Doch nur in dem schwarzen Tempel bei den Beschwörungspriestern, die sich ohnehin alle dem Dunklen verschrieben hatten. Dort könnte Razoreth reiche Ernte halten, wenn er nicht ohnehin bereits seine Wohnstatt dort hatte.
Aber er suchte einen Prinzen, den es angeblich nicht gab. Weder die Schriften noch der König selbst, der es am besten wissen musste, gaben einen Hinweis. Das konnte nur bedeuten, dass seine Existenz verheimlicht wurde. Aber es musste Leute geben, die ihn schützten, die ihn verbargen, die sein Geheimnis bewahrten. Die sollte er suchen! Und er musste herausfinden, weshalb sie ihn beschützten. Waren sie Diener des Herrn der Abgründe, oder ahnten sie nichts von seiner Bestimmung?
Wenn der König einen Sohn hatte, so Jaryns Überlegung, dann gab es auch eine Frau, die ihn geboren hatte. Sie konnte heimlich und ohne das Wissen des Königs entbunden haben. So eine Frau konnte eine Konkubine oder eine Sklavin gewesen sein. Sie musste am Hofe gelebt haben. Genauer gesagt, vor dreiundzwanzig Jahren. Er musste Menschen finden, die bei Hofe lebten und sich noch an diese Zeiten erinnern konnten. Aber im Palast würde jedermann ihn als einen Sonnenpriester überführen. Viele kannten sein Gesicht, andere würden ihn an seiner Haartracht erkennen. Wie abscheulich musste er sich verändern, um dort ungehindert umherschweifen zu können, von niemandem entlarvt? Sein Haar grau färben, den Zopf abschneiden, das Gesicht mit Staub schwärzen, geflickte raue Kleidung tragen? Damit könnte er sich wohl unkenntlich machen, aber nicht die Palastdiener befragen. Schwerlich würde er etwas anderes ernten als Beschimpfungen und Fußtritte.
Seufzend betätigte er den Gong, und wenig später trat Saric ein. Respektvoll und auf Anweisungen wartend, blieb er an der Tür stehen.
»Komm näher, Saric, und setz dich zu mir.«
Saric verneigte sich kurz, nahm sich einen Hocker, der an der Wand stand, und schob ihn in Jaryns Nähe. Mit gemessenen Gesten und gesenkten Blickes ließ er sich nieder.
»Noch näher, Saric, ich will nicht schreien. Und sieh mich an, wenn ich mit dir rede.«
»Wie Ihr wünscht, Erhabener.«
Ob Saric so viel Tuchfühlung behagte oder nicht, war ihm nicht anzusehen. Wie stets war er bereit, jeden Befehl Jaryns auszuführen.
»Du warst mir stets ein vorbildlicher Diener, Saric. Du bist gehorsam, treu und verschwiegen. Ich möchte dir heute dafür danken.«
Nun konnte selbst der stets gleichmütige Saric ein überraschtes Zucken seiner Augenbrauen nicht verhindern. Es war ganz und gar unüblich, dass sich ein ranghoher Priester bei einem Novizen bedankte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb senkte er nur schweigend das Haupt.
»Du musst nichts sagen, Saric, es ist so. Ich möchte dir auch meinen Dank aussprechen für deine tatkräftige und
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