Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Wärter kehrte mit einem grauen, kratzigen Kittel zurück, und Jaryn war froh, sich darauf konzentrieren zu können. »Lös dem Gefangenen die Ketten und gib ihm den Kittel!«
»Aber Erhabener, er wird fliehen. Er ist groß und stark.«
»Ich lasse dir die Zunge herausschneiden«, gab Jaryn kalt zur Antwort. »Erinnere mich daran, wenn ich gehe.«
Aus der Zelle kam ein Lachen. »Lass es mich tun, Jaryn!«
Der Wärter schaute entsetzt von einem zum anderen. Und Jaryn wusste, dass Rastafan einen Fehler begangen hatte. Der Mann wusste nun, dass zwischen ihnen ein vertrauliches Verhältnis bestand. Das würde Jaryns Plan zunichtemachen. Er trat zur Seite, um den Wärter vorbeizulassen. Der näherte sich Rastafan mit gekrümmten Schultern, schloss ihm umständlich die Fesseln auf und warf ihm den Kittel in den Schoß. Sein Gesicht war verkrampft und bleich.
Rastafan zog sich den Kittel über, während der Mann abwartend in gebückter Haltung und gesenkten Blickes neben ihm stand. Rastafan warf Jaryn einen fragenden Blick zu, und dieser nickte. Der Wärter musste sterben, er durfte nicht darüber sprechen, was sein verdutztes Ohr gehört hatte. Aber Jaryn konnte es nicht selbst tun, er ekelte sich davor, diesen Mann zu berühren.
Rastafan zögerte nicht lange. Er packte den erschrockenen Wärter, wand ihm seinen rechten Arm um den Hals und drückte ihm die Kehle ab. Der Mann verfärbte sich, röchelte, schlug um sich, aber Rastafan brach ihm mit einem Ruck das Genick. Es gab ein hässliches Geräusch, und Jaryn wandte sich ab. Rastafan ließ den Toten ins Stroh fallen. Seinem wölfischen Grinsen konnte man entnehmen, dass er es genossen hatte.
»Und nun?«, fragte er, während er auf Jaryn zuging, jetzt sichtlich erleichtert, dass seine Kerkerhaft ein Ende gefunden hatte. »Wie ist dein Plan?«
»Wir warten auf Borrak. Ich kann dich nicht einfach zum Turm hinausführen. Zu dem Zweck muss ich dich noch einmal anketten.«
Leises Misstrauen erwachte bei Rastafan, er zögerte. Ganz offensichtlich wog er ab, was klüger war: einfach zu fliehen – oder Jaryn zu vertrauen?
Jaryn schien seine Gedanken zu lesen. »Vertrau mir«, sagte er, und Rastafan nickte und gab sein Leben freiwillig in die Hand eines Sonnenpriesters. Wer ihm solches früher prophezeit hätte, den hätte er für verrückt gehalten.
Kurze Zeit später erschien Borrak mit zwei Begleitern. Man hörte sie schon von Weitem poltern und fluchen. Als der Hauptmann Jaryn erblickte, blieb er stocksteif stehen, und seine Begleiter ebenfalls. Er hatte nicht wirklich geglaubt, dass er im Jammerturm einen Sonnenpriester antreffen würde.
Jaryn stand vor der offenen Zellentür und sah Borrak kühl entgegen. »Ich bin Jaryn, der Achayane. Im Namen Achays, des Himmelsbeherrschers, befehle ich dir, den Gefangenen mitzunehmen und ihn zum Sonnentempel zu bringen. Er wird dort in einem unserer Verliese untergebracht.«
»Aber Herr – Erhabener – dieser Mann muss in meiner Obhut bleiben, er ist …«
»Du wagst Widerworte?«, donnerte Jaryn ihn an.
Borrak taumelte rückwärts wie von einem Keulenhieb getroffen. »Nein, Erhabener.« Die Lippe dieses Schlächters zitterte vor Angst. Aber vielleicht auch vor Wut, dachte Jaryn. Ein gefährlicher Mann, also werde ich ihn besänftigen müssen. »Gut. Ich verstehe dein Befremden. Und obwohl ich dir gegenüber keine Rechenschaft ablegen muss, will ich dir meine Beweggründe erläutern. Die Verbrechen, die dieser Mann begangen hat, hat er an mir begangen. Es war meine Kette, es war mein Rock. Und wäre ich nicht durch das Wasser der Kurdurquelle gefeit, so hätte mich die Schande vernichtet, mein Inneres zu Staub zerbröselt.«
Mit starrem Entsetzen hörten die Männer ihn reden. Zufrieden mit sich selbst fuhr Jaryn fort: »Deshalb, vortrefflicher Hauptmann, gehört der Gefangene mir. Mir gebührt es, Rache zu nehmen tief in den Verliesen des Sonnentempels. Weder du noch das Volk von Margan werden ihn leiden sehen, nur ich allein werde ihn genießen. Versuche, es dir vorzustellen: er und ich in einem Raum, der wie ein Grab von der Welt getrennt ist. Ein Raum, in dem es Geräte gibt, deren Anblick dein Blut zu Eis erstarren lässt. Und eine wahre Ewigkeit an Zeit. Was auch immer du ihm angetan hättest, es wäre bald vorbei gewesen. Ich gedenke, ihn Jahre am Leben zu lassen. Wir Achayanen kennen Mittel, einen Gemarterten immer wieder zu beleben und zu stärken. Sein Geist freilich wird sich verwirren, er wird sabbern
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