Lady Chesterfields Versuchung
sie es Ihnen durch einen Diener mitteilen lassen, der Sie dann zu ihnen geleitet.“
Wie einen dressierten Hund, dachte Hannah aufsässig. Während die Gräfin mit ihren Ausführungen fortfuhr, begannen Estelle und Johanna, ihre Sachen für den Abend herauszulegen. Als Hannah sah, dass Estelle das Kleid aus rosenholzfarbenem Damast, das sie nicht besonders mochte, aus dem Schrankkoffer nahm, widersprach sie halbherzig: „Ich würde lieber den violetten Tarlatan mit dem Blumenstickmuster auf dem Überrock anziehen.“
Ihr Protest verhallte ungehört, und Gräfin Schmertach musterte sie ungehalten. „Ich hatte meine Ausführungen noch nicht beendet, Lady Hannah. Bitte unterbrechen Sie mich nicht. Höflichkeit ist eine weitere Regel, an die wir uns hierzulande streng halten.“
Jahrelange Übung in höflichen Umgangsformen bewahrte Hannah davor, die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, auszusprechen. „Entschuldigen Sie. Was hatten Sie noch gleich gesagt?“, fragte sie stattdessen.
„Sie werden am unteren Ende der Tafel platziert. Bei den anderen unverheirateten jungen Damen.“
Die Bemerkung versetzte Hannah einen Stich. Also hatte Michael niemandem von ihrer vorgeblichen Ehe erzählt. Aber damit war zu rechnen gewesen, zumal ihr so die Möglichkeit blieb, den Hof des Fürsten unbemerkt zu verlassen.
Während sie ihren Gedanken nachhing, setzte Gräfin Schmertach ihre Erläuterungen fort. Hannah durfte nicht damit rechnen, von Prinz Karl zum Tanz aufgefordert oder ihm vorgestellt zu werden. „Eine Heirat mit einem Erbprinzen ist keine Märchenhochzeit“, schloss die Erste Hofdame schroff, „sondern ein politisches Arrangement, das beiden beteiligten Seiten zum Vorteil gereicht. Sie brauchen sich also keine Hoffnungen zu machen, dass der Prinz Ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nimmt.“
Unterdessen hatte Johanna begonnen, Hannahs Haar nach hinten zu kämmen und zu einem kunstvollen Chignon zusammenzustecken. Allmählich fühlte Hannah sich wie eine Puppe – unfähig, sich zu bewegen, außer jemand schob ihre Glieder in die entsprechende Position.
„Haben Sie alles verstanden, was ich ausführte?“, erkundigte sich die Gräfin streng. „Oder gibt es noch Fragen zur Einhaltung der Etikette?“
„Nein, Erlaucht.“ Hannah war völlig klar, dass man von ihr erwartete, nichts anderes zu tun, als auf ihrem Stuhl zu sitzen und respektvollen Abstand zur Familie des Fürsten einzuhalten.
„Gut. Graf von Reischor lässt Ihnen ausrichten, dass Ihre Verwandten in Kürze eintreffen werden, um Sie mit nach Gut Kreimeln zu nehmen.“ Gräfin Schmertach erhob sich. „Dann wünsche ich Ihnen viel Freude bei den Feierlichkeiten heute Abend.“
Hannah schloss die Augen. Hinter ihren Schläfen begann es, schmerzhaft zu hämmern, vermutlich wegen der straff zurückgesteckten Frisur. Sie bat Estelle und Johanna, sie allein zu lassen, und sobald die beiden Zofen ihrer Aufforderung nachgekommen waren, zog sie jede einzelne Nadel aus dem schweren Knoten, bis ihr Haar ihr wieder ungebändigt den Rücken hinunterfiel.
Was ist bloß los mit mir? fragte sie sich missmutig. Warum kann ich ihnen nicht sagen, was ich wirklich will? Es schien, als hätten die Jahre der Fügsamkeit jegliches Widerwort in ihr zum Schweigen gebracht.
Als es an der Tür klopfte, rief Hannah in dem Glauben, es sei eine der beiden Zofen: „Herein!“
Doch stattdessen trat Michael ins Zimmer. Er war sichtlich überrascht, sie allein vorzufinden.
Hannah erhob sich. Ob sie jetzt einen Knicks vor ihm machen musste? Er trug immer noch dieselbe Kleidung wie am Morgen, doch seine Krawatte saß schief, als hätte er daran herumgezupft. Sie widerstand der Versuchung, sie wieder gerade zu rücken. „Brauchst du etwas?“
„Ja.“ Sein Blick verdunkelte sich vor Begierde. „Ich brauche etwas.“
Bei seinen Worten begann ihre Haut zu prickeln, und Hannah wusste nicht, ob es ihre strapazierten Nerven waren, die diese Reaktion hervorriefen, oder Michaels machtvolle Gegenwart. Sie zwang sich, sich wieder zu setzen.
„Der Graf hat dir den Vorschlag gemacht, früher abzureisen“, sagte Michael nachdenklich. „Warum hast du das Angebot nicht angenommen?“
Sie streifte einen ihrer Handschuhe über. „Weil ich dir versprochen hatte, einige Tage hierzubleiben, um dich auf das Leben bei Hof vorzubereiten.“
„Ist das der einzige Grund?“
Nein. Ich wollte dich nicht verlassen. „Was für einen Grund sollte es noch geben?“
Er
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