Lady Chesterfields Versuchung
frühe Kindheit erinnern, gibt es da eine Zeit, in der Sie große Angst hatten.“ Obwohl ihr das Herz bis zum Halse klopfte, trat sie einen Schritt auf ihn zu. „Damals, als Sie ein kleines Kind waren und in eine fremde Welt gestoßen wurden.“
Vorsicht, Hannah, ermahnte sie sich in Gedanken. Du darfst ihn nicht noch mehr erzürnen.
Doch Karls Gesicht blieb so ausdruckslos, als habe sie gar nichts gesagt.
„Ich verstehe Ihre Vorbehalte gegenüber Lieutenant Thorpe“, sprach sie leise weiter. „Jeder wäre wütend, wenn sich plötzlich sein ganzes Leben als Lüge herausstellt und alles sich ändert.“
„Es ändert sich nichts“, widersprach der Prinz eigensinnig. „Und ich lasse nicht zu, dass dieser Mann etwas tut, was die Fürstin durcheinanderbringt.“
Es schmerzte Hannah, zu sehen, wie sehr der Prinz sich um seine vermeintliche Mutter sorgte. Zumal sie sicher war, dass Fürstin Anna ihn niemals als ihren Sohn anerkannt hatte. Unwillkürlich erschien das Bild eines einsamen Jungen vor Hannahs innerem Auge, der sich vergeblich darum bemühte, die Liebe seiner Mutter zu gewinnen.
„Lieutenant Thorpe ist hier, um die Wahrheit herauszufinden, und nicht, um jemanden zu verletzen. Ganz besonders nicht die Fürstin.“ Hannah konnte sehen, wie sehr Karl litt. Wie auch nicht – er stand vor den Trümmern seines Lebens. „Ich flehe Sie an, sprechen Sie mit ihm“, fuhr sie fort. „Wenn Sie beide miteinander reden, können wir vielleicht einen Kompromiss finden.“
Der Fürst versteifte sich bei ihren Worten. „Es kann keinen Kompromiss geben, Mrs Thorpe. Lohenberg ist meine Heimat, und ich würde eher sterben, als einem Fremden, der nichts über dieses Land weiß, den Thron zu überlassen.“
„Er ist Ihr Bruder“, brachte Hannah ihm zu Bewusstsein. „Sie sind Blutsverwandte und sollten zusammenhalten, gleichgültig, welche Verschwörungen damals zu der heutigen Situation geführt haben.“
Doch der Prinz schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich.“
Hannah fiel auf, dass er beinahe enttäuscht klang. „Lieutenant Thorpe ist ein guter Mensch. Und ich glaube daran, dass auch Sie einer sind.“
„Es kümmert mich nicht, was die Frau eines Soldaten von mir denkt.“
Hannah reckte das Kinn. „Ich bin die Tochter eines Marquess“, ließ sie ihn wissen, „und nicht die Frau eines Soldaten.“ Sie wappnete sich innerlich und fuhr fort mit ihrem Geständnis. „Die Behauptung, dass ich mit ihm verheiratet bin, war eine Lüge. Ich wollte einfach bei ihm sein.“
„Sie lieben ihn?“
Sie gab keine Antwort. Zu sehr war sie damit beschäftigt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Ich möchte, dass er glücklich wird. Egal, ob als Soldat oder als Prinz.“
Karl musterte sie misstrauisch. „Sie wollen Prinzessin werden.“
„Nein.“ Hannah atmete tief durch. „Im Grunde wäre ich lieber die Frau eines Soldaten.“ Ihr Blick schweifte in die Richtung, in der die Gemächer der Fürstin lagen. „Ich weiß, was es bedeutet, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein und ständig unter Beobachtung zu stehen – und trotzdem nie den hohen Ansprüchen genügen zu können.“
Als sie dem Prinzen in die Augen sah, meinte sie, Verstehen in seinem Blick zu erkennen. Einen winzigen Moment fragte sie sich, ob er sich vielleicht auch so gefangen fühlte und nach Freiheit sehnte.
„Sie werden stets ein Prinz bleiben“, versicherte sie ihm. „Ein Mann, der Lohenberg so treu ergeben ist, könnte ein unersetzlicher Berater sein.“
„Ich gäbe aber einen besseren Fürst ab“, erwiderte der Prinz trotzig. „Ihre Tage in Lohenberg neigen sich dem Ende entgegen. Seien Sie versichert, Lady Hannah, dass ich mir nicht nehmen lasse, was mir gehört.“
Den restlichen Vormittag brachte Hannah damit zu, auf Michael zu warten. Doch als die Audienz bei Fürst Georg beendet war, erhaschte sie lediglich einen flüchtigen Blick auf ihn, dann nahm eine Schar Diener ihn in Empfang und führte ihn fort. Kurz darauf wurde der Graf in seinem Rollstuhl aus den Gemächern des Fürsten gerollt.
Hannah eilte an von Reischors Seite. „Hat Fürst Georg ihn anerkannt? Ist die Audienz gut verlaufen?“
„In jeder Hinsicht. Ich gehe davon aus, dass man ihn innerhalb eines Tages zum Prinzen ernennt.“ Der Graf lächelte entspannt. „Es gibt also keinen Grund für Sie, Ihren Aufenthalt in Lohenberg zu verlängern.“
Hannah erwiderte das Lächeln nicht. „Ich habe ihm versprochen, die nächsten Tage bei ihm zu
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