Lady Chesterfields Versuchung
schlug sich die Hand vor den Mund. „Du bist mein verlorener Sohn! Prinz Karl!“, rief sie mit tränenerstickter Stimme.
„Ich heiße nicht Karl, sondern Michael“, widersprach er.
„Ja. Karl Peter Michael Heinrich, Erbprinz von Lohenberg.“ Sie trat einen Schritt näher und besah sich die Narbe eingehend. „Weißt du, sie war an der falschen Stelle. Die Narbe bei dem Jungen, den sie für dich ausgegeben haben. Seine Narbe befand sich über dem Knöchel, deine unterhalb der Kniebeuge. Aber der Fürst wollte mir nicht glauben und beharrte darauf, dass der Junge unser Sohn sei. Dass überhaupt eine Narbe vorhanden war, genügte, um ihn zu überzeugen. Mich dagegen ließ er einsperren, weil er glaubte, ich hätte den Verstand verloren.“
Mit Tränen in den Augen trat sie vor ihn hin. „Darf ich?“, fragte sie verzagt, bevor sie ihn umarmte.
Michael stand ein wenig hölzern da und wusste nicht recht, was er tun sollte. Als die Fürstin die Arme sinken ließ und von ihm forttrat, lächelte sie zittrig. „Ich weiß, dass du mich nicht mehr erkennst. Es ist ja auch so lange her.“ Eine Träne rann über ihre Wange, und plötzlich lachte sie auf. „Ich hatte recht! Sie haben mir nicht geglaubt, aber ich hatte recht. Der Junge, den man mir gab, warst nicht du.“ Sie zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Augenwinkel. „Ich danke Gott, dass du am Leben bist.“
Plötzlich wurde die Tür zum Vorzimmer aufgerissen, und Erbprinz Karl stürmte in den Salon. Er trat vor die Fürstin hin, verbeugte sich höflich, doch in seinen Augen stand Zorn. „Durchlaucht“, sprach er sie an, ohne Michael zu beachten.
„Hinaus mit dir!“ Die Fürstin deutete auf die Tür. „Ich habe nicht den Wunsch, dich zu sehen.“
„Verehrte Frau Mutter, ich …“
„Hinaus!“, rief sie aufgebracht. „Ich will dich nicht sehen! Ich bin nicht deine Mutter, und du bist nicht mein Sohn.“
„Wenn Sie mich brauchen sollten …“, begann der Prinz abermals.
„Ich würde dich niemals rufen, nicht einmal in größter Not. Du bist ein Lügner und Verräter!“
Der Prinz bedachte Michael mit einem wütenden Blick, bevor er sich knapp vor der Fürstin verbeugte und das Gemach verließ.
„Gleich heute Abend werde ich ein Willkommensfest für dich ausrichten, mein Sohn. Alle sollen erfahren, dass der echte Prinz gefunden wurde.“ Anna lächelte. „Sie müssen dich nur anschauen, um zu sehen, dass es wahr ist.“
Die Fürstin mochte glücklich sein über sein Auftauchen, doch Michael war der Hass in den Augen des Erbprinzen nicht entgangen. Der Mann, dessen Rolle es hätte sein sollen, als zukünftiger Fürst über Lohenberg zu herrschen, war gleichsam entthront. Aber mit Sicherheit würde Karl das Fürstentum nicht kampflos aufgeben.
Als Prinz Karl aus dem Vorzimmer stürmte, duckte Hannah sich hinter die hohe Lehne des geschnitzten Stuhls. Selbst hier draußen waren die lautstarken Zurückweisungen der Fürstin zu hören gewesen, und der Gesichtsausdruck des Prinzen ließ keinen Zweifel daran, dass er fuchsteufelswild war.
Vor dem Stuhl blieb er stehen. „Sie können ebenso gut hervorkommen, Mrs Thorpe. Ihr Kleid hat Sie verraten.“
Hannah richtete sich auf. „Es lag nicht in meiner Absicht, zu lauschen. Ich warte nur auf meinen … also, das heißt … auf den … Lieutenant.“ Sorgfältig vermied sie das Wort Prinz, um Karls Wut nicht noch mehr zu steigern.
Flammender Zorn lag in seinem Blick, als er einen Schritt auf sie zu machte. „Ich hatte Ihnen beiden befohlen, mein Land zu verlassen.“
Ihre Erziehung ermöglichte es Hannah, höflich zu bleiben. „Ich verstehe, dass Sie unser Ungehorsam erzürnt. Aber …“
„Sie verstehen gar nichts“, erwiderte er verächtlich.
Stumm betete Hannah, dass es ihr gelingen mochte, den Prinzen zu besänftigen. Aber der Mann stand kurz davor, alles zu verlieren. Sein Zuhause, seinen Titel … und sogar seine Familie. Worte würden ihn nicht darüber hinwegtrösten können.
„Sie haben nicht Ihr ganzes Leben hier im Schloss verbracht, nicht wahr?“, fragte sie dennoch. „Erinnern Sie sich an die Zeit davor?“
Der Prinz wirkte betroffen angesichts ihrer Fragen. Was Hannah nicht wundernahm, denn einer Person von fürstlichem Geblüt stellte man nicht unaufgefordert Fragen, schon gar nicht so persönliche.
„Ich habe immer hier gelebt.“
„Vielleicht erinnern Sie sich ja nur nicht mehr“, gab sie zu bedenken. „Aber ich bin sicher, wenn Sie sich an Ihre
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