Lady Chesterfields Versuchung
zu gehen. Stattdessen wandte er den Kopf Richtung Küche, von wo der Duft von frisch gebackenem Brot zu ihnen herüberwehte. Seine Nasenflügel blähten sich, und Hannah erkannte, dass er hungrig sein musste.
Ihn in die Küche zu schicken, damit er eine ordentliche Mahlzeit zu sich nehmen konnte, wagte sie aus Furcht vor ihrem Vater nicht. „Gehen Sie in die Gartenlaube und warten Sie dort auf mich“, wies sie ihn an. „Ich bin gleich wieder zurück.“
Er schüttelte den Kopf. „Lady Hannah, ich muss los.“
„Sie sind hungrig“, entgegnete sie ruhig und hielt abwehrend eine Hand hoch, als er widersprechen wollte. „Ich hole etwas zu essen aus der Küche. Sie sollen wenigstens eine tüchtige Mahlzeit dafür bekommen, dass Sie mich gerettet haben.“
Er trat einen Schritt von ihr fort. „Es wäre nicht gut, wenn man Sie wieder mit mir zusammen sehen würde.“
„Das klingt ja so, als fürchteten Sie meinen Vater.“
Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, und sie holte zum entscheidenden Schlag aus. „Machen Sie sich keine Sorgen, Lieutenant. Falls Papa versuchen sollte, Sie zu töten, verspreche ich Ihnen, Sie genauso entschlossen zu verteidigen wie Sie mich. Wie Sie wissen, kann ich ziemlich gut mit dem Kerzenleuchter umgehen.“
6. KAPITEL
H annah öffnete die hintere Tür der Küche und spähte vorsichtig in den Raum. Die Küchenmädchen waren emsig mit dem Putzen und Zerkleinern von Gemüse beschäftigt. Sie standen mit dem Rücken zu ihr und waren ganz in ihre Gespräche vertieft. Auf der Anrichte beim Fenster entdeckte Hannah den Picknickkorb, den ihre Mutter in Auftrag gegeben hatte. Perfekt.
Sie raffte die Röcke, schlich vorsichtig an der Wand entlang und griff sich den Korb. Dann eilte sie wieder nach draußen und schlich im Schutz der Thujahecke zur Gartenlaube.
Als sie die Tür aufstieß, fand sie den Lieutenant auf einem Schemel sitzend. Er hatte ein paar Leinensäcke zusammengeschoben, damit Hannah darauf Platz nehmen konnte. Sie reichte ihm den Korb. „Es ist nicht viel, aber mehr konnte ich in der Kürze der Zeit nicht auftreiben. Vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben.“
Er nahm ihr den Korb nicht gleich ab. „Eine Belohnung war nicht vonnöten. Ich hätte nicht zugelassen, dass Belgrave Ihnen etwas tut.“
„Ein Lexikon …“ Sie musste lächeln. „Nicht unbedingt die Sorte Waffe, die ich von Ihnen erwartet hätte. Es scheint, als wären Sie entgegen meiner anfänglichen Überzeugung doch ein Mann der Worte.“
Er lächelte ebenfalls, dann ergriff er den Korb und stellte ihn auf den Boden. Hannah nahm die darin befindlichen Teller heraus und verteilte Schinken, Brot und Käse darauf.
Wenn sie sich auf das Essen konzentrierte, fiel es ihr sicher leichter zu vergessen, dass sie sich ohne Anstandsperson in der Gegenwart eines Mann befand, der viel attraktiver war, als ihr guttat. Ihre Haut prickelte vor Erregung, als sie sich seines prüfenden Blicks bewusst wurde.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und merkte erst jetzt, dass sie keine Handschuhe trug. Plötzlich fühlte sie sich unpassend gekleidet.
„Wollen Sie denn gar nichts essen?“, fragte er, nachdem er den Teller genommen und Schinken und Brot zu einem Sandwich zusammengeklappt hatte. Obwohl er bedächtig aß, entging Hannah nicht, dass er tatsächlich sehr hungrig war.
„Ich habe keinen Appetit.“ Und nach dem Zwischenfall mit Belgrave schon gar nicht. Wahrscheinlich hatte sie mit ihrem heutigen Verhalten dem Namen ihrer Familie unwiderruflich geschadet.
Ihr wurde ganz elend bei dem Gedanken. Sie senkte den Blick, krallte geistesabwesend die Finger in ihren Rock und knüllte den Stoff zusammen. Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter und fiel auf ihre Hand. Es gelang ihr nur mit Mühe, die Fassung zu bewahren.
„Was ist los, Lady Hannah?“, fragte der Lieutenant ruhig. „Was haben Sie?“
„Schon gut.“ Ohne ihn anzusehen, hob sie in einer beschwichtigenden Geste die Hand. „Ich brauche nur einen Moment, um mich wieder zu beruhigen. Es war ein … anstrengender Morgen.“
„Weinen Sie ruhig“, ermutigte er sie. „Es ist das Beste, was Sie tun können nach allem, was Sie durchgemacht haben.“
Hannah begann zu schluchzen. „Er wird meinen Ruf zerstören“, stieß sie weinend hervor. „Weil ich mich geweigert habe, ihn zu heiraten.“
Plötzlich spürte sie starke Arme um sich, die ihr Trost und Geborgenheit gaben. Obwohl der
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