Lady Chesterfields Versuchung
Anblick der eintönigen Landschaft mit ihren schwarzen, gepflügten Feldern verstärkte Hannahs Wehmut. Was hatte sie erhofft? Dass er sie bat, bei ihm zu bleiben? Nein, das würde er unter keinen Umständen tun. Sie war nie mehr als eine Zerstreuung für ihn gewesen. Plötzlich kam ihr das Kutscheninnere wie ein Gefängnis vor, das sie von der Welt isolierte und ihr vor Augen führte, was es bedeutete, im Exil angekommen zu sein.
Michael würdigte sie keines weiteren Blickes, und Hannah schloss die Augen, weil es sie noch trauriger stimmte, ihn anzusehen. Allmählich klangen ihre Wut und ihr Kopfschmerz ein wenig ab, sodass sie schließlich einnickte.
Als die Kutsche auf einmal unvermittelt zum Stehen kam, schreckte Hannah hoch.
„Warten Sie hier“, ordnete Michael an. „Ich gehe nachsehen, was los ist.“
„Ist etwas mit der Kutsche des Grafen?“
„Ich weiß es nicht, aber ich finde es heraus.“ Durchdringend sah er ihr in die Augen. „Und Sie bleiben auf jeden Fall hier“, schärfte er ihr ein.
Widerstrebend nickte sie. Ihr war vor Furcht mit einem Mal ganz kalt, und fröstelnd rieb sie sich die Arme. Ein Blick zu Mrs Turner zeigte ihr, dass die alte Frau glücklicherweise nicht aufgewacht war.
Als Michael ausgestiegen war, lauschte sie angestrengt und versuchte zu verstehen, worüber die Männer sich draußen unterhielten. Vielleicht steckte die Kutsche des Grafen fest, oder eines der Pferde lahmte.
Doch plötzlich krachten draußen Schüsse, und zu Tode erschrocken duckte Hannah sich unter das Fenster, packte Mrs Turner und zog ihren Kopf herunter. Kurz öffnete die Witwe die Augen, doch da sie unter dem betäubenden Einfluss des Laudanums stand, schlief sie umgehend wieder ein.
Abermals vernahm Hannah die Stimmen von Männern, die etwas riefen, das wie Hilferufe klang, dann wieder Schüsse, und im nächsten Moment hörte sie, wie ihr Kutscher vom Bock sprang und davoneilte.
Oh Gott, was geschah dort draußen? Entsetzt schloss Hannah die Augen und betete, dass niemand verletzt wurde. Ein törichter Gedanke, wie ihr gleich darauf bewusst wurde, angesichts des Kampfes, der offensichtlich stattfand. Als sie vorsichtig durch das Kutschenfenster spähte, konnte sie in der Dunkelheit nichts sehen. Mit einem Mal wurde es still, und Hannah befürchtete das Schlimmste.
Die Minuten verstrichen, aber sie wagte nicht, die Kutsche zu verlassen, da sie Michaels Anordnung nicht zuwiderhandeln wollte. Wenn er aber tot ist? überlegte sie panisch. Oder verletzt? Was, wenn er Hilfe benötigte, während sie feige in der Kutsche hockte?
Sie holte tief Luft, bevor sie mit zitternden Händen den Schlag aufstieß und aus der Kutsche kletterte. Es war mittlerweile vollkommen dunkel, aber im Licht der Kutschenlaternen konnte sie die Straße zu erkennen. Glücklicherweise schien sie das Laudanum rechtzeitig genommen zu haben, sodass der Kopfschmerz sich in Grenzen hielt. Doch die Arznei machte sie auch schläfrig, und mühsam versuchte sie, die bleierne Müdigkeit abzuschütteln. Von weiter vorne vernahm sie die Stimme des Grafen, der seinen Dienern Anordnungen in lohenischer Mundart gab.
„Peter, sehen Sie nach, ob die Damen in Sicherheit sind. Gustav, Sie nehmen meine Kutsche und fahren mit den anderen Dienern ins nächste Dorf. Sorgen Sie dafür, dass ein Arzt im Gasthof auf uns wartet! Beeilen Sie sich, wir kommen nach, so schnell es geht!“
Trotz seines Befehlstons entging Hannah nicht, dass der Graf unter Schmerzen zu leiden schien. Als sie näher kam, sah sie von Reischor auf dem Boden sitzen. Nicht weit von ihm kauerten die panikerfüllte Estelle und ein Diener neben dem leblos daliegenden Körper von Michael. Ein paar Schritte von den dreien entfernt lagen zwei unbekannte Männer, die offenbar tot waren.
„Ist der Lieutenant am Leben?“ Sie eilte zu Michael und kniete sich neben ihn.
„Sie hätten die Kutsche nicht verlassen dürfen, Lady Hannah.“ Der Botschafter hatte Mühe zu sprechen. „Es ist nicht sicher hier draußen.“ Mit einem Nicken bedeutete er dem Kutscher, Hannah zur Kutsche zurückzubegleiten, doch sie hob abwehrend die Hand.
„Was ist geschehen?“
„Gustav und ich wollten nachsehen, warum die Kutsche angehalten hatte“, antwortete der Graf. „Dabei entdeckten wir eine Straßensperre. Und dann wurde ich angeschossen.“ Schmerzerfüllt schloss er die Augen. „Lieutenant Thorpe und der Kutscher erwiderten das Feuer, aber einem der Angreifer gelang es zu fliehen.“
Hannah
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