Lady Chesterfields Versuchung
wich Michael nicht von der Seite, und nachdem die Kutsche mit Gustav und den Dienern fortgefahren war, bettete sie seinen Kopf behutsam auf ihrem Schoß. Er stöhnte bei der Bewegung. Gott sei Dank war er am Leben.
„Wurde Lieutenant Thorpe ebenfalls angeschossen?“
„Ein Streifschuss am Arm, nichts Ernstes. Ich mache mir mehr Sorgen wegen seiner Kopfverletzung. Sein Angreifer hat ihn gegen die Kutsche geschleudert, bevor es Gustav gelang, den Kerl zu erschießen.“ Bei der Erinnerung erschauderte der Graf.
„Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Sie in Gefahr gebracht habe“, fuhr er einen Moment später fort. „Bis jetzt konnte ich es selbst nicht recht glauben. Aber es muss eine Verbindung zum Herrscherhaus geben. Warum sonst sollte jemand versuchen, den Lieutenant zu töten?“
„Ich stimme Ihnen zu.“ Hannah hielt es für besser, den Überfall an Bord des Schiffes nicht zu erwähnen. Stattdessen wechselte sie das Thema. „Was ist mit Ihnen? Wie schwer sind Sie verletzt?“
Offenbar ohne es zu merken, verfiel der Graf in den lohenischen Dialekt, als er antwortete. „Ich habe mindestens drei Schusswunden.“
Hannah versuchte, ihre Angst zu verbergen, denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie solche Verletzungen behandelt werden mussten. „Wie schlimm ist es?“, fragte sie ebenfalls auf Lohenisch.
„Ich fürchte, dass ich nicht laufen kann.“
Hannah zog ihre Pelisse aus, faltete sie zusammen und bettete vorsichtig den Kopf des Lieutenants auf dem Kleidungsstück, dann stand sie auf. Glücklicherweise ist es dunkel, dachte sie, als sie ihren Rock anhob und einen Streifen von ihrem obersten Unterrock abriss. Vielleicht gelang es ihr, die Wunden des Grafen zu verbinden.
„Um Lieutenant Thorpes Verletzung habe ich mich gekümmert“, murmelte der Graf. Hannah beugte sich über Michaels Kopf und untersuchte ihn vorsichtig. Sie entdeckte eine stark angeschwollene Prellung und etliche hässliche Hautabschürfungen. Einer seiner Unterarme war mit einer blutgetränkten Krawatte umwickelt.
„Für wen halten Sie den Lieutenant, Graf Reischor?“ Hannah zerriss den Leinenstreifen in kleinere Teile und begann, die Wunden des Grafen zu versorgen.
„Höchstwahrscheinlich ist er der wahre Erbprinz, der durch einen anderen Knaben ersetzt wurde.“
Hannah verband dem Grafen das Knie, und er erzählte ihr unterdessen von den Gerüchten um den jungen Prinzen, der an Allerheiligen verschwunden und erst am folgenden Morgen wieder aufgetaucht war. „Man erzählt sich, dass er ein wenig verändert aussah. Gerade genug, um Fragen aufkommen zu lassen. Er soll viel geschrien und nahezu ein ganzes Jahr nicht mehr gesprochen haben. Sein Kindermädchen hielt ihn für verhext. Doch der Fürst bereitete den Gerüchten ein Ende, indem er beschwor, dass es sich bei dem Jungen um seinen Sohn handelt.“
Hannah runzelte die Stirn. „Was denken Sie – falls die Kinder tatsächlich vertauscht wurden, wusste der Fürst davon?“
Jetzt erst fiel dem Grafen auf, dass sie die ganze Zeit in der Mundart seines Landes mit ihm sprach. „Wie kommt es, dass Sie unsere Sprache beherrschen, Lady Hannah?“
Hannah lächelte. „Meine beste Freundin im Internat stammte aus Lohenberg. Ich mochte es, wenn sie in der Mundart sprach, und habe so viel von ihr aufgeschnappt, dass ich mich schließlich mit ihr unterhalten konnte.“ Sie zuckte die Schultern. „Irgendwann sprach ich es fließend. Wie die anderen Fremdsprachen, die ich in der Schule gelernt habe.“
Von Reischor musterte sie erstaunt. „Wie viele waren es?“
„Vier“, erwiderte sie ein wenig verlegen. „Sprachen zu lernen fiel mir immer leicht.“
„Das könnte uns von großem Nutzen sein“, sagte von Reischor nachdenklich. „Falls Sie sich unserer Reisegesellschaft anschließen möchten.“
Schlug er ihr gerade vor, sie nach Lohenberg zu begleiten? Eigentlich wollte Hannah ablehnen, doch dann fiel ihr Blick auf den bewusstlosen Michael – und es zerriss ihr das Herz. Sie sorgte sich mehr um ihn, als gut für sie war.
In diesem Augenblick kam Michael zu sich. Er setzte sich stöhnend auf und griff sich an die Schläfe. Hannah eilte zu ihm, legte ihm den Arm um die Schultern, um ihn zu stützen, und war erleichtert, dass sie fürs Erste keine Entscheidung fällen musste.
„Wo sind sie?“
„Entkommen, fürchte ich.“ Der Graf seufzte. „Unsere Männer waren nicht schnell genug, um sie einzuholen.“
Michael stieß einen Fluch aus und versuchte
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