Lady Lavinias Liebestraum
fragte sie sich, ob all diese Gedanken nicht überstürzt kamen, immerhin war ihr Lord Wincote vor drei Tagen das erste Mal begegnet, und sie konnte nicht im Entferntesten behaupten, dass sie ihn kannte und Aussagen über seinen Charakter zu treffen wusste.
Sie hatte keine Ahnung, was er mochte und was nicht, was er gern speiste oder las, ob er leidenschaftlich sein konnte oder vielleicht ein eher unfreundlicher Zeitgenosse war. Seine funkelnden schwarzen Augen und mehr noch die Art, wie er sie anschaute, ließen sie jedoch vermuten, er sei größter Leidenschaft fähig. Das Geheimnis, welches ihn wie eine Aura umgab, reichte jedenfalls aus, sie zu faszinieren und neugierig zu stimmen. Doch wie mochte es in seinem Herzen aussehen, welchen Platz würde sie darin einnehmen?
Lächelnd schritt sie zum hohen Spiegel im Entree und setzte sich einen mit Blumen verzierten Hut auf. Die Zeit wird es ans Tageslicht bringen, sagte sie sich und nahm ihr Cape vom Butler entgegen. Im Augenblick jedoch stand ihr einfach nur der Sinn nach einem unterhaltsamen Ausritt mit Lord Wincote.
Es klopfte, und Lavinia musste stark an sich halten, nicht sofort vorzustürzen und die Eingangstür selbst zu öffnen. Rasch besann sie sich eines Besseren und huschte in das Gesellschaftszimmer, um dort, wie es sich für eine junge Dame ziemte, auf den willkommenen Gentleman zu warten, wenngleich ihr dies ungemein schwerfiel.
Zu ihrer großen Verwunderung kündigte der Butler jedoch nicht Lord Wincote an, sondern den Earl of Corringham.
James trat ein und lüftete seinen Hut. Dann verbeugte er sich vor ihr. “Mylady, Ihr Diener.”
Lavinia lachte. “Warum so förmlich, James?”
“Es erscheint mir durchaus angemessen, denn ich bin schließlich aus formellen Gründen hier.”
Lavinia horchte auf. “Was meinst du damit?”
“Die Duchess bat mich gestern, dich heute als Anstandsdame zu begleiten”, verkündete er gleichmütig.
“Das hat sie nicht! Du erlaubst dir einen Spaß mit mir!”, rief sie.
James machte eine hilflose Geste. “Keineswegs. Du kannst mir glauben, dass ich Mama nur äußerst ungern zugestimmt habe. Ich konnte ihr den Wunsch nicht verwehren, das wäre sehr unhöflich von mir gewesen, oder?”
Versuchte James inzwischen davon abzusehen, Wincote misstrauisch zu begegnen, nur weil ein ungutes Gefühl ihn dazu bewogen hatte, schien nun Ihre Gnaden größte Bedenken zu hegen. James wusste, dass sie sich auf ihre Eingebung stets verlassen konnte, und nahm ihre Sorge deshalb auch sehr ernst.
“Aber warum sollst ausgerechnet
du
die Chaperone spielen? Tom begleitet mich doch immer, wenn ich verabredet bin, und Mama hatte bislang nicht die geringsten Einwände dagegen vorzubringen.”
“Ich denke, der Duke hat Tom diesen Morgen mit Beschlag belegt.”
“Wir haben noch andere Dienstboten, die mich begleiten könnten”, erwiderte sie entnervt.
“Lavinia, du kränkst mich zutiefst”, rief er in bitterem Ton. “Bin ich dir ein solch unangenehmer Zeitgenosse, dass du nicht mit mir gesehen werden willst? Als du meinen Phaeton ausprobieren wolltest, war ich dir offensichtlich gut genug.”
Lavinia ließ sich auf einem Stuhl nieder, lehnte sich zurück und maß ihn mit nachdenklichen Blicken. James stand in tadelloser Reitmontur vor ihr, sah schneidig und ungemein adrett aus. Jede junge Dame wäre froh gewesen, mit dem Earl of Corringham ausfahren zu dürfen, da bildete sie keine Ausnahme. Wenn nicht gerade Lord Wincote sie zu einem Ausritt eingeladen hätte, hätte sie sich ehrlich über sein Angebot gefreut. Die beiden Gentlemen mochten sich aus unerfindlichen Gründen jedoch nicht, wie sie bemerkt hatte, und daher musste sie einem Ausflug entgegensehen, der nicht etwa von heiterer Konversation bestimmt sein würde, sondern vom Austausch spitzer Bemerkungen.
“Bitte verzeih mir, ich wollte dich nicht verletzen, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter meinem Rücken irgendwelche geheimnisvollen Dinge im Gange sind.”
“Weder habe ich Hintergedanken noch Mama. Plagt dich vielleicht ein schlechtes Gewissen?”
“Was fällt dir ein!”, entrüstete sich Lavinia.
Zum Glück hörten sie in diesem Moment den mit Nachdruck betätigten Türklopfer, doch weder Lavinia noch James bewegten sich von der Stelle.
Lavinia warf ihm einen drohenden Blick zu. “Ich werde jetzt mit Lord Wincote ausreiten. Du kannst mich meinetwegen begleiten – ich kann dich kaum daran hindern –, aber hüte dich davor,
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