Lady Marys romantisches Abenteuer
diese wunderbare Weise berührte, war das Liebe? Oder war Liebe dieses ruhige Gefühl des Einander-Verstehens und des Zusammengehörens? War das alles nun Liebe, wahre Liebe, oder nur Freundschaft und Anziehung?
Er beugte sich über sie, und sie wusste, dass er sie küssen wollte. Und sie wusste auch, dass sie seinen Kuss genauso gern erwidern würde, dass sie beide größte Freude daran hätten, denn auch darin schienen sie sich gut zu verstehen. Doch in ihrer momentanen Verwirrung war sie sich nicht sicher, ob Küssen nicht ein zu großes Vergnügen und eine zu große Zerstreuung sein könnte. Deshalb wandte sie das Gesicht ab und betrachtete wieder das Porträt der jungen Dame.
Und dann sah sie die Buchstaben.
Sie waren in dem bestickten Ärmel der Dame versteckt, so in den goldenen Fäden verborgen, dass sie kaum auffielen. Doch weil Mary dasselbe Muster bereits auf dem Engelsgewand gesehen hatte, erkannte sie sie jetzt: ineinander verschlungene F s, überall, innen und außen.
„John, sehen Sie nur“, flüsterte sie und zeichnete mit dem Finger das Muster nach, ohne das Bild dabei zu berühren. „Es ist das Gleiche wie auf dem Saum des Engelsgewandes. Also gehört sie doch zur selben Familie wie mein Engel!“
„Ich sehe es auch“, sagte John langsam und nahm den Hut ab, um sich noch besser vorbeugen zu können. „Das gleiche Muster aus lauter F s.“
Mary sog laut die Luft ein, und ihre Hände zitterten vor Überraschung. „Oh, John, da ist noch mehr! Sehen Sie, hier, eingearbeitet in die Spitze, mit der ihr Hemd eingefasst ist. ‚Isabella Maria di Feroce‘. Das muss ihr Name sein, John. Er muss es sein. Isabella di Feroce! Wieso hat das noch niemand zuvor gesehen?“
John hingegen teilte ihre Aufregung nicht. Mit grimmigem Gesicht zog er sie in die Arme. Es war keine Umarmung. Eher schien es, als wollte er sie beschützen.
„Keiner hat es je gesehen, weil keiner das Bild ansah, wie du es tust“, antwortete er, und seine Stimme war nur noch ein raues Flüstern. „Und was du da gefunden hast – oh, Mary, Mary, das könnte zur größten Unruhe werden, die du jemals gestiftet hast.“
11. KAPITEL
Als Mary im alten Schulzimmer von Aston Hall gesessen und ihre Reiseroute geplant hatte, waren Museen, Kathedralen, Paläste und Burgen in ihren Plan miteinbezogen worden. Doch nie hätte sie an eine Bücherei gedacht. Jetzt saß sie hier, mit John an ihrer Seite, und beugte sich über einen langen Lesetisch der Bibliothèque Nationale de France. Vermutlich war sie ein historisches Wahrzeichen von beträchtlichem Ruhm, denn Monsieur Leclair war fähig gewesen, ihr während des Frühstücks gut zehn Minuten lang einen Vortrag über das Alter der Bibliothek, die enorme Büchersammlung und die Großzügigkeit Ludwigs XV. zu halten, welcher die Bibliothek dem Volk im Allgemeinen und den Gelehrten im Besonderen zugänglich gemacht hatte.
Angeregt durch das Porträt Isabellas hatte Mary in der letzten Nacht vom bezaubernd schönen Leben der Dame geträumt. Einem Leben in einem mittelalterlichen Palazzo, voller Kunst und Musik. Doch als sie und John jetzt die staubigen, muffigen Buchbände studierten, die ihnen von ebenso muffigen Bibliothekaren gebracht worden waren, begriff Mary schnell, dass an den Feroces wenig Bezauberndes war.
Im 14. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, hatten sie Florenz praktisch nach ihrem Willen regiert. Sie waren habgierig und gewalttätig. Alles, was sie begehrten, beanspruchten sie für sich, und sie vergifteten und ermordeten jeden, der ihnen im Weg stand. Es stimmte schon, sie waren die Gönner von Künstlern wie Fra Pacifico, doch sie waren stolzer auf die Künste ihrer Foltermeister im Kerker ihres Palazzos und auf die Anzahl der Frauen, die sie schändeten. Als schließlich die französische Armee Florenz eroberte, trauerte keiner, als zusammen mit der Stadt auch die Feroces stürzten.
„Haben Sie von alldem etwas gewusst, John?“, fragte sie, während sie eine weitere blutrünstige Seite voller Daumenschrauben und aufgeschlitzten Bäuchen umwendete. „Diese Feroces waren entsetzliche Menschen.“
John nickte und zuckte die Achseln. „Sie werden noch Schlimmeres hören, wenn Sie erst einmal in Florenz sind. Jeder Führer dort hat seine grausige Lieblingsgeschichte. Die Feroces geben deshalb solche ausgezeichneten Bösewichte ab, weil sie am Ende genau das Schicksal erlitten, das sie verdienten.“
„Geschleift und geviertelt und die Köpfe nebeneinander
Weitere Kostenlose Bücher