Ladylike
merklich. Genau dies habe sie auch interessiert. Nein, der Organist habe kein Gepäck gehabt und sei seltsamerweise in Jeans und Pullover unter ein dickes Federbett gekrochen.
»Er hat offenbar Klavierauszüge und CDS mitgebracht«, sagt die Tochter, um auch etwas zur Ehrenrettung ihrer Mutter beizutragen, »nichts deutet darauf hin, daß die beiden in einer engeren Beziehung standen.«
Der Sohn zögert ein wenig, bevor er mit der Wahrheit herausrückt: »Wahrscheinlich wissen Sie ja sowieso, daß unsere Mutter auf Grund ihrer schweren Erkrankung medikamentenabhängig war. Sie hat den Organisten in einer Entziehungsklinik kennengelernt, es ist also davon auszugehen, daß auch er … Nun, vielleicht sind beide rückfällig geworden und haben ihre frühere Dosis nicht verkraftet.«
»Ihre Eltern haben bestimmt eine Putzfrau«, sagt Anneliese und betrachtet die Usambaraveilchen am Fenster, die zwar die Köpfe hängen lassen, aber nicht völlig vertrocknet wirken. »Wieso wurde Ihre Mutter nicht früher gefunden?«
Während Bernadettes Abwesenheit habe die Haushaltshilfe regelmäßig die Post hereingeholt, die Blumen gegossen und nach Bedarf saubergemacht, sie sei aber ausgerechnet kurz nach der Rückkehr ihrer Arbeitgeberin in die Türkei geflogen.
Alles hier sieht gepflegt und ordentlich aus. Ich überlege, welche Möbelstücke Ewald und welche Bernadette ausgesucht haben mochte. Die vielen Ziergegenstände aus Zinn oder Messing und die geblümte Polstergarnitur im Cottage-Stil sind wohl eher auf die Wahl der Hausfrau zurückzuführen, das schwarze Ledersofa und die Thonetstühle auf den Hausherrn. Teuer, aber zu plüschig, finde ich, eine Spur spießig, dabei auf Repräsentation bedacht. Für mein Leben gern wäre ich auch die Titel der Bücher durchgegangen und hätte alle Räume besichtigt.
Für Ewalds Tochter ist es sicher nicht leicht, ein Glückskind als Bruder zu haben. Die Natur war wieder einmal ungerecht, weil Ewalds Sohn so ansehnlich, tüchtig und liebenswürdig geraten ist und darüber hinaus eine hübsche Frau und eine niedliche kleine Tochter besitzt. Konfliktstoff ohne Ende.
Plötzlich fängt Anneliese an, in ihrer voluminösen Handtasche zu kramen, zieht auftrumpfend Ewalds Postkarte heraus und gibt sie dem Sohn. Er liest kopfschüttelnd, reicht die Karte seiner Schwester weiter und meint, mit der geheimen Mission seines Vaters könne er überhaupt nichts anfangen.
Na bitte schön, das war keine spontane Idee, denke ich, Anneliese ist auf den Besuch bei Ewalds Kindern vorbereitet. Warum sollte sie die Postkarte sonst eingesteckt haben.
»Ist es überhaupt Ewalds Schrift?« fragt die Schwiegertochter argwöhnisch, doch seine Kinder sind sich sicher.
»Wir wollen jetzt nicht länger stören«, sagt Anneliese und steht auf. »Darf ich noch rasch Ihre Toilette benutzen?«
Während sie eine Zeitlang verschwunden bleibt, erzählt Ewalds Sohn vom letzten Zerwürfnis seiner Eltern. Seine Schwester stößt ihn kaum merklich mit dem Ellbogen an, was ihn nicht sonderlich beeindruckt.
»Unsere Mutter war bisweilen sehr eifersüchtig. Aus Loyalität hat sie uns allerdings nicht in alle Details der ehelichen Differenzen eingeweiht. Nur so viel ist uns bekannt, daß Mama unserem Vater Hausverbot erteilt hat, was ich nicht allzu ernst nehme. Ich glaube eher, daß Papa im ersten Impuls überreagierte und für eine Weile nach Italien floh, sich aber später wieder mit Mama aussöhnen wollte.«
Eine Weile schweigen wir, und ich schaue zum Fenster hinaus. Der Garten ist ebenso langweilig wie das Wohnzimmer, nur der ungemähte Rasen und ein paar blühende Brennesseln setzen einen Kontrapunkt.
»Ich mache mir solche Vorwürfe«, klagt die Tochter. »Anscheinend hat sich Mutter gemeinsam mit ihrem Bekannten die Bach-Kantate Ich habe genug angehört; die CD ist noch eingelegt, und der Text klingt nach einem endgültigen Abschied. Hätte ich mich doch mehr um sie gekümmert, es sieht ganz nach einem Selbstmord aus! Doch warum hat sie dann keinen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Haben die Polizisten nach einem Brief oder anderen Hinweisen gesucht?« frage ich.
»Routinemäßig haben sie die angebrochenen Lebensmittel aus dem Kühlschrank mitgenommen und auch den Arzneikasten komplett ausgeräumt«, sagt die Schwiegertochter kaltschnäuzig. »Wir konnten ja nicht verschweigen, daß ein chronischer Medikamentenmißbrauch vorlag. Bernadette hat kiloweise Tranquilizer geschluckt, Benzodiazepin-Präparate,
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