Ladylike
Wie soll ich mir den Zauber der blauen Farbe erklären? Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Ferne, Traum und letzter Ruhe, nach Himmel und Meer, die wir alle in uns tragen.
Wie lange wir hier schon herumstehen, weiß ich nicht, aber es ist wie im Märchen – eine Sekunde wird zur Ewigkeit. Schließlich mahnt Anneliese zum Aufbruch.
»Ist es dir recht, wenn wir einen klitzekleinen Abstecher machen?« fragt sie.
Warum eigentlich nicht? Schließlich können wir uns nach Lust und Laune treiben lassen.
»Was hast du denn vor?« will ich trotzdem wissen.
Ganz in der Nähe, in einem Vorort von Ulm, muß sich Ewalds – oder besser gesagt Bernadettes – Haus befinden. Nur zu gern würde Anneliese einen neugierigen Blick auf das Anwesen werfen.
Und wenn man uns auf unserer Erkundungstour erwischt?
»Ach was, niemand kennt uns dort«, sagt Anneliese und sucht die genaue Adresse aus ihrem Notizbüchlein heraus. Rikki knöpft sich die Straßenkarte vor und kommandiert spaßeshalber wie ein elektronisches Navigationssystem.
Kurz bevor wir ankommen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Anneliese hat den Blautopf nur aus einem einzigen Grund als Reiseziel angegeben: Sie will Ewalds Haus inspizieren.
»Möchten Sie Freunde besuchen?« fragt Ricarda.
Anneliese hat sich die Antwort bereits zurechtgelegt: »Ja, wenn sie nicht verreist sind, gehen wir rasch guten Tag sagen. Am besten parkt ihr gleich am Waldrand und macht einen kleinen Spaziergang. In einer halben Stunde treffen wir uns beim Auto wieder.«
Moritz und seine Freundin tauschen einen erfreuten Blick, und wir trennen uns. Anneliese und ich müssen ein paar Minuten laufen, bis wir die Hausnummer 61 erreicht haben. In dieser Straße leben keine armen Leute, auch Bernadettes Villa gehört nicht zum sozialen Wohnungsbau. Zwei imposante Trauerweiden bewachen den Eingang, im Vorgarten begießt ein kleines Mädchen mit einer gelben Plastikkanne das Unkraut.
»Das muß Ewalds Enkelin sein«, flüstert Anneliese. »Bestimmt ist der Sohn mit seiner Familie eingetroffen, und die Tochter ist wahrscheinlich auch noch hier!«
Tatsächlich haben die zwei Autos auf der Straße kein Ulmer Nummernschild.
»Und jetzt?« frage ich, denn von der vereinbarten halben Stunde sind erst fünf Minuten vergangen.
»Jetzt gehen wir rein!« sagt Anneliese und drückt bereits auf den Klingelknopf.
Eine Frau um die Vierzig öffnet uns und fragt unfreundlich: »Ja, bitte?« Sie hat verweinte Augen und sieht müde aus.
An der Stimme erkenne ich, daß es Ewalds Tochter sein muß. »Sie haben mich vorgestern angerufen«, sage ich, »aber leider habe ich vergessen, mir ihre Telefonnummer aufzuschreiben.«
Meine Ausrede ist nicht besonders elegant, denn in solchen Fällen kann ja jeder die Auskunft befragen. Aber die traurige Frau scheint in Gedanken ganz woanders zu sein und führt uns hinein.
Ewalds Tochter ist alles andere als eine Schönheit. Drinnen macht sie uns mit ihrer Schwägerin und ihrem Bruder, der seinem Vater auffallend ähnlich sieht, bekannt.
Nun ist Anneliese an der Reihe und stellt sich als Ewalds Tanzstundendame vor. Erst kürzlich hätten sie die Verbindung zueinander wiederaufgenommen. Früher seien sie ein niedliches Teenager-Paar gewesen.
»Davon hat er uns nie erzählt«, sagt die Tochter ungläubig.
»Es ist ja auch lange her! Wir haben später auch Ihre Mutter kennengelernt und dachten, daß wir Ihnen vielleicht helfen könnten«, sagt Anneliese vage.
Der Sohn runzelt skeptisch die Brauen und berichtet, daß er den Vater inzwischen als vermißt gemeldet habe, denn es sei ja nicht ganz ausgeschlossen, daß er einem Unfall oder Verbrechen zum Opfer gefallen sei.
»Verbrechen?« frage ich erschrocken. »Und wie sieht es im Fall Ihrer Mutter aus? Verfolgt die Polizei eine Spur?«
Nein, nein, die beiden Todesfälle hier im Haus seien zwar noch nicht geklärt, aber ein Verbrechen sei eher unwahrscheinlich. Man wisse jetzt allerdings, wer der unbekannte Mann sei, und Bernadette habe ihren Kindern auch erzählt, daß sie einen Kirchenmusiker kennengelernt habe, mit dem sie Bach-Kantaten höre – aber das sei auch alles. Auf das Ergebnis der Obduktion müsse noch eine Weile gewartet werden.
Ich überlege, ob sich der Organist bei Bernadette einquartieren oder nur einen kurzen Besuch abstatten wollte.
»Hatte der Gast einen Koffer dabei?« frage ich. »Trug er einen Schlafanzug oder war er vollständig angekleidet?«
Ewalds Schwiegertochter lächelt kaum
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