Laessliche Todsuenden
in den Wald fliegt. Amos, der Kleinste, kräht neuerdings: »Bumm!« Und dann sind es nur noch siebenhundert, allerdings wildbewachsene Meter, die Leo den »leuchtenden Pfad« nennt. Als sie das Häuschen vor vier Jahren im Internet entdeckt hatten, brauchten sie drei Anläufe, es auch in Wirklichkeit zu finden. Seither schreibt Ilka in den Wegbeschreibungen, die sie per E-Mail an ihre Freunde schickt: »Wenn ihr ganz sicher seid, falsch zu sein, dann seid ihr goldrichtig.«
Sobald sich das Dickicht lichtet, passiert man eine riesige schwarze Scheune, danach eine Schrebergartensiedlung. In vier akkuraten Reihen zwanzig geduckte Hütten, die vorgeben, vollwertige Häuschen zu sein. Ruralästhetik im Kleinformat oder Tirol in Minimundus, wie Ilka gerne sagt: winzige grüne Fensterläden, manche mit ausgeschnittenen Herzen. Rustikale Blumenkästen. Zierfolien, die Ziegel simulieren, auf Zierschornsteinen. Denn nur wenige heizen in der Übergangszeit mit Öfen, die meisten haben elektrische Heizkörper oder Konvektoren, die sie mit lebensgefährlichen Gaskartuschen betreiben. Das reicht für die paar Kubikmeter Innenraum, in denen Ilka sofort wahnsinnig oder zur Messerstecherin werden würde, mit Kindern, bei Schlechtwetter, nach nur einem halben Tag. Aber die meisten Menschen scheinen sich gerne zusammenzudrängen wie Hühner im Regen.
Einige Schrebergärtner haben Gartenzwergegruppen auf ihren badetuchgroßen Rasenstücken stehen, Ilka wollte es zuerst gar nicht glauben. »Deine Klischees gibt’s halt nicht nur im Volkskundemuseum«, musste Leo sie natürlich aufziehen, Leo, der Weltgewandte, der selbsternannte Unterschichtenkenner.
Einen Sommer lang waren im Bauhaus die Selbstbausätze für überdachte Gartenbars stark verbilligt, da haben sich fünf oder sechs Schrebergärtner identische Gebilde in die Vorgärten gestellt. Ihren Freunden aus der Stadt gegenüber, die, wenn sie übernachten, auf jeden Fall ein Moskitonetz brauchen und literweise Autan, malt Ilka gerne aus, wie die Biertrinkertrupps in der Schrebergartensiedlung wandern, von Garten zu Garten. Einen Freitagabend in Nummer Fünf, am Samstag in Nummer Sechs, die Woche darauf bei Acht und Zehn, denn Neun ist eine gehbehinderte Witwe ohne Gartenbar und Sieben etwas Ähnliches. Jedes Wochenende in derselben Kulisse, auf demselben Barhocker im Freien, nur das Bier zahlt jedes Mal ein anderer. Ob sich manche danach verirren, wenn sie zu viel getrunken haben? Irrtümlich in die Nachbarhütte wanken, obwohl es die übernächste wäre? Mit gespielter Empörung berichtet Ilka am Ende immer, dass auch Leo sich gelegentlich zu den »lieben Schreberinnen und Schrebern«, wie er sie nennt, begibt. Dass auch er manchmal die halbe Nacht lang bei »denen« sitzt, unter ihren bunten Glühbirnenketten, und später nach Bier stinkt, »man fragt sich ja, was du mit denen zu reden hast«. Leo grinst von einem Ohr zum anderen, schwenkt sachte sein Rotweinglas und schweigt. Ilka wirft dann manchmal die Autan-Flasche nach ihm und nennt ihn zärtlich »mein skrupelloses Chamäleon«.
Das einzig Schöne an dieser Siedlung ist die schilfgedeckte Scheune, die die Schrebergartenhäuser überragt. Vom See aus wirkt sie wie ein Hirtenhund, der die Dummheit seiner Schafe würdevoll ignoriert. In der Scheune wohnt der schweigsame Jan, »praktisch ein Widerstandskämpfer«, wie Ilka sagt, und dann versucht sie zu beschreiben, wie Jan dreinschaut, wenn die Schreber ihm wieder einmal mit dem Wort »Holzschutzmittel« kommen. Aber diese Geschichte verfängt bei ihren Besuchern aus der Stadt nicht, denn erstens ist es schwierig, die Beschreibung eines Gesichtsausdrucks zur Pointe zu verdichten, zweitens ist die Frage Holzschutzmittel oder nicht ein schlagender Beweis dafür, dass auch Ilka verlandeiert, sosehr sie mit diesen Anekdoten davon ablenken will. Jans Scheune jedenfalls, so Ilka, wäre eine Titelgeschichte wert, mit Fotostrecke, für »Country Home«. Außen das vom Alter schwarze Holz und innen ein verspielter Traum, das schwört sie, weil sie übrigens die einzige weit und breit ist, die je drinnen war. Hätten sie ihr Häuschen nicht und ihre drei Kinder, dann würde sie diese Scheune wollen, so wie sie ist, mit all den Möbeln vom Flohmarkt, dem Boden aus Pflastersteinen und dem schummrigen Licht. »Und mitsamt dem stummen Golem drin?«, fragt Leo anzüglich, aber nicht einmal vom absichtlich gebrauchten Pleonasmus, der sie sonst auf die Palme bringt, lässt Ilka sich
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