Laessliche Todsuenden
beirren. »Im Winter natürlich nicht zu beheizen«, seufzt sie einfach weiter, »und viel zu nah an den Schreberern, aber sonst, für sich genommen …« »Und was macht dieser Jan«, unterbrach einmal Isolde, ihre beste Freundin, Ilkas Schwärmereien. »Ach, was Fades, mit Computern«, musste sie da zugeben, »aber er ist ein unentdecktes Interieur-Genie, glaub mir’s halt.« Damit jedoch war ihr die Gesprächshoheit abgejagt.
Nach vier Sommern, genauer nach zweien, denn im ersten haben sie renoviert und der vierte beginnt gerade erst, nach zwei abgeschlossenen Sommerfrischeperioden also sind fast alle ihre Freunde und Kollegen schon einmal dagewesen (»Wenn ihr ganz sicher seid, falsch zu sein …«). Deshalb hat Ilka kaum mehr Gelegenheit zu ihren detailfreudigen Führungen. Leo hasst diese Führungen. »Es ist reine Angeberei«, schimpft er, wenn sie allein sind, »außerdem interessiert es keinen Menschen, aus welch dunklen Quellen du diese ungeheuer seltenen Jugendstilkacheln ergänzen konntest, against all odds . Die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Abdichtung der Senkgrube. Und dass der Holunder knapp davor war, die Außenwand zu durchstoßen.«
»Ach, lass mich doch in Ruh«, keift Ilka zurück und ist eine Weile wirklich beleidigt, wohl, weil sie im Grunde seiner Meinung ist, aber einfach nicht anders kann. »Was ist denn?«, fragt Joshi, der meistens vor sich hin träumt, sich aber immerhin traut, bei deutlich spürbarem Temperaturabfall nachzuforschen, ganz im Gegensatz zu Alina, die sofort verschwindet, wenn sie kann, und, wenn sie nicht kann, mit einem Gesicht wie eine geballte Faust in sich hineinstarrt. »Erstens heißt das: Worum geht es«, weist Ilka ihn zurecht, »und hör halt besser zu!« Manchmal zuckt Joshi die Schultern, verdreht die Augen oder insistiert. Manchmal kriegt er ansatzlos einen Wutanfall und tut schreckliche Dinge, man kann es vorher nie sagen.
Ilkas und Leos sogenannter Landsitz war einst das Badehäuschen einer Gräfin Esterházy, das heißt, als sie es fanden, war es dessen elender Rest. Sein Grundriss ist achteckig, es ist zweistöckig und hat ein glockenförmiges Dach, es sieht also aus wie ein verwaistes, von weither mit dem Wind herangewehtes Türmchen. Außen herum verläuft um jede Etage eine hölzerne Balustrade. Als sie das Haus kauften, war sie morsch und verfault, Ilka hat die Docken in der Nähe von Bratislava originalgetreu drechseln lassen. Dafür ist sie dreimal hingefahren, es waren insgesamt drei Kofferraumladungen, sie hat Blut geschwitzt, ist an der Grenze aber kein einziges Mal kontrolliert worden. Ilka kann ohne Panikattacken nicht einmal schwarzfahren. Sie ist krankhaft ehrlich, zumindest behauptet sie das, denn das heimische Handwerk hat sie mit ihren billigen slowakischen Docken ja trotzdem betrogen. Oder nur den Zoll?
Seit der Bratislava-Aktion, die die monatelange Renovierung abschloss, kann man jedenfalls wieder, bevorzugt mit einem langstieligen Glas in der Hand, auf einer dieser Balustraden stehen und auf den See hinausschauen, über das Schilf hinweg bis zum graublauen Horizont, der schon zur Hälfte Ungarn ist, man weiß aber nie genau, ab wo.
Das Badehäuschen steht neben einer riesigen, bestimmt über hundertjährigen Trauerweide und ist mit Abstand das Romantischste, was Ilka je gesehen hat. Wäre es nicht so heruntergekommen gewesen, so kurz vor dem leisen Zusammensacken in den Schutthaufentod, hätte Leo es gewiss zu bourgeois gefunden. Manchmal verdächtigt ihn Ilka, dass er die Schrebergartensiedlung damals sogar als Pluspunkt betrachtet hat, als notwendige Nähe zum normalen Leben, obwohl nicht einmal er, der immer alles ausprobieren will, je Ambitionen auf das Bewohnen einer solchen kleinbürgerlichen Hundehütte gehabt hat.
Das Klassengeplänkel gehört zu ihrer Beziehung von Anfang an dazu. Dabei sind sie beide auf ihre Weise wannabees . Das werfen sie einander im Streit zwar manchmal vor, haben aber daraus vor Dritten wohlweislich noch nie ein Thema gemacht. Wegen seines zweiteiligen Nachnamens, dem in früheren Generationen ein »von« voranging, ließe sich Leos Herkunft zwar erahnen, doch hat er seit seiner Studentenzeit so hart am Linkssein und seinem Dialekt gearbeitet, dass die jungen Leute, die seine Bewunderer oder Assistenten sind, inzwischen zu glauben scheinen, die Meyer-Eggenburgs seien eine Art rote Dynastie. Das würde Leos flachbusigen Tanten (Spitzenkrägen, silberne Zuckerzangen) gar nicht
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