Laessliche Todsuenden
hat. Es ist, als ob Leo und sie in diesem Punkt zwei verschiedene Sprachen sprächen, Deutsch und Mandarin zum Beispiel. Als würde sie ihn auf Mandarin vor einer heranziehenden Katastrophe warnen, für die er offensichtlich blind ist. Aber ihr mandarinesisches Warngeschrei versteht er eben nicht. Einmal hat Leo ihr dieses Bild einfach zurückgespiegelt. Ob es nicht genauso sein könne, dass sie die Grenzen des Erträglichen zu eng ziehe? Das fand Ilka eine Weile einleuchtend. Auch dafür liebt sie ihren Mann, dass er ihr manchmal die hysterischen Spitzen abbricht, ohne Profit daraus zu schlagen. Aber ein komisches Gefühl bleibt, und auf ihr Gefühl gibt sie etwas. Joshi, der so charmant, kreativ und witzig sein kann, hat von klein auf eine dunkle, unerreichbare Seite, the dark side of the moon . Wenn er sich dort verschanzt, hat niemand mehr Zugang zu ihm, aber Ilka findet verstörend, wie unglücklich er dort ist. Nein, das lässt sie sich einfach nicht einreden, dass Joshi sich besser distanziert als etwa Alina. Das riecht ihr zu sehr nach der aalglatten Problementsorgung, die unter modernen Müttern so beliebt ist: Mein Kind spinnt zwar komplett, aber ich bin riesig stolz auf seine Besonderheit.
Das, wohin Joshi sich in seinen Wutanfällen flüchtet, ist nämlich kein Autonomieparadies, sondern ein kalter Tümpel aus Selbsthass. Das kann sie genau fühlen, schließlich ist sie seine Mutter. Auch wenn ihr das Ganze ein Rätsel bleibt, eine Fremdheitserfahrung, gerade beim eigenen Kind schwer zu ertragen.
Als das Auto mit einem unbeholfenen Ruck zum Stehen kommt – beinahe hat Leo es wieder abgewürgt –, lässt Ilka ihre Fingerknöchel knacken. Dann dreht sie sich heftig um, doch einen Moment zu spät, denn ihr scheint, als sei hinten etwas Kleines geflogen, ein Schnuller, ein Schlumpf oder eine Haarspange, von Alina über Amos hinweg zu Joshi. Und Joshi hält tatsächlich schon die Schlüssel in der Hand. »Süssel«, kreischt Amos, »machen, aufmachen, Wiese gehen.« Alina strahlt ihn verzückt an, ein bisschen übertrieben, wie Ilka findet, und streichelt sein verschwitztes Köpfchen. Alina kann nicht lügen, beinahe wie Ilka, und schon so ein kleiner Verrat an der Autorität, um des lieben Friedens willen, stürzt sie in ein gewisses Dilemma. Joshi sieht Ilka an und grinst unter seinen Stirnfransen hervor. Dann öffnet er die Autotür.
Beim Aussteigen schüttelt Ilka die Schuhe ab, steht barfuß auf dem Kies und streckt sich. Der Holunder blüht, der Himmel ist blau, und Joshi holt sogar, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, seinen kleinen Bruder aus dem Kindersitz. Alina, die wie der Blitz hinters Haus, in den Garten gelaufen ist, kommt aber schon wieder zurück und macht ein Gesicht. »Zwei Gartensessel«, sagt sie mit schriller Stimme und deutet hinter sich, »ich war’s nicht, ich war für den Abwasch zuständig.«
Die familiären Pflichten sind genau geregelt, seit Ilka ein halbes Jahr nach Amos’ Geburt zwei Wochen mit Burn-out-Syndrom in einer Klinik verbracht hat. Manchmal kommt ihr das vor wie ein Spuk, die hellblauen Hemden, die man dort trug, das verwaschen lächelnde Gesicht der Therapeutin bei der Morgenmeditation, aber sie hat seither doch besser gelernt, Verantwortung abzugeben. Die Kinder machen eigentlich gern mit, vor allem Alina, die kleine Streberin. Sie liebt es, wenn sie auf Punkt und Komma weiß, was von ihr erwartet wird, so wie sie überhaupt für alles feste Regeln braucht.
Die Abreise vom Badehaus ist allerdings unübersichtlicher als die eingespielten Alltagsdienste in der Stadt. Strom und Wasser müssen abgedreht, Fahrräder und Gartenmöbel verstaut werden. Entweder vergessen sie, die Lebensmittel mitzunehmen – das ist eigentlich Leos Job, den er, wie Ilka stichelt, innerlich aber noch immer nicht angenommen hat, deshalb werden den Göttern regelmäßig Brotlaibe, Schinkenreste und literweise Milch geopfert –, oder die Mülleimer sind nicht geleert. Schimmliger Kaffee in der Espressomaschine oder blubbernd gärender Rasenschnitt im Rasenmäher sind die anderen bösen Überraschungen, die sie beim Wiederkommen gerne erwarten. All das hat mit Ekel und Gestank zu tun. »Ich kann nicht an alles denken«, schimpft Ilka dann, »ich denke eh an fast alles, aber alles ist einfach zu viel.« Natürlich weiß sie, dass ihr Anspruch auf Letztkontrolle genau dazu führt, dass sich für solche versteckten Fehler niemand anderer zuständig fühlt. Versteckte Fehler, wohlgemerkt.
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