Laessliche Todsuenden
aufgerissenem Gesicht gedacht hat, ungeschützt wie eine Schlafende, die spricht. Für einen Moment hat sie das Zeitgefühl verloren.
»Schwere Entscheidung?«, fragt Jan und lächelt. Er steht auf und reicht ihr die Hand. Sie nimmt sie und lässt sich hochziehen. Dann hilft er ihr vom schwankenden Steg zurück ans Ufer. Und als es wirklich Zeit wäre, selbst allergroßzügigst gerechnet, lässt er ihre Hand immer noch nicht los. Hand in Hand gehen die beiden zurück in Richtung Siedlung, die Angel bleibt zurück, Ilka fragt sich, ob sie träumt. Oder spinnt. Wie immer ist sie ein gespaltenes Wesen, sie hat sich schon manchmal gedacht, dass sie die seltenen Momente, wo sie innerlich mit sich zur Deckung kommt, im Kalender markieren sollte. Derzeit sind sie mindestens zu dritt in ihrem Kopf: Hoch lodert eine Verliebtheit, aus dem Nichts gekommen, von der aber zu befürchten ist, dass sie gleich wieder in sich zusammenstürzt, und übrig bleibt der Ruß der Lächerlichkeit. Unten drunter, quasi in der Basslinie, trommelt vernehmlich der, den Ilka im Zwiegespräch manchmal tadelnd »mein lieber Herr ÜberIch« nennt und der jetzt empört ist: Sie doch nicht, sie ist doch so glücklich, ihr fehlt doch nichts, also warum rennt sie da mit einem nicht einmal besonders gutaussehenden Nerd Hand in Hand durch den Wald? Und drittens schnattert wie immer »Ihre Satirische Natur« vor sich hin, die schon nach Grotesken Ausschau hält, nach Verwicklungen und Ausreden, und die schon so lacht über Ilka, dass sie sich gleich in die Hose pischt. Wenn ihnen jetzt Leo entgegenkäme, dann müsste sie sagen, sie habe gerade einen Schwächeanfall erlitten und sich deshalb lieber an Jan festgehalten, der sich übrigens rührend um sie gekümmert habe. Leo hätte keinen Grund, ihr nicht zu glauben, aber sie würde es gar nicht über die Lippen bringen, aus Scham vor Jan. Denn wenn sie vor Jan für das Händchenhalten hektisch eine Ausrede benutzt, dann würde er wissen, dass sie mehr darin sieht. Als vielleicht er.
Jetzt müssen sie nur noch am großen Holunder vorbei, dann werden sie schon an Ilkas Zaun stehen. Der Holunder ist so alt, dass er einen baumdicken Stamm hat. Ilka schneidet seine tieferen Äste von Zeit zu Zeit mit der Heckenschere so aus, dass ein bogenförmiger Durchgang entsteht. Das ist eine Reminiszenz an ihre Kindheit und an das Feenbuch. Darin wurde ein solcher Durchgang beschrieben, durch den bei Dämmerung die Feen flogen. Sie brauchten ihn, um von der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit zu wechseln und umgekehrt. Ilka starrt dem natürlichen Torbogen entgegen und ist nicht imstande, Jan ihre Hand zu entziehen. Ganz still ist es in ihr drin geworden, das ganze Geschrei hat aufgehört, sie kann aber die hochgezogenen Brauen des Herrn ÜberIch und das lüsterne Funkeln in den Augen Ihrer Satirischen Natur direkt vor sich sehen. Da macht Jan einen schnellen Schritt zur Seite und löst sich von ihr, er beugt sich nieder und pflückt ihr eine kleine gelbe Blume. »Die passt zu dir«, sagt er und lacht. Und schon ist er voran, durch den Holunder. Am Gartentor sagt er leichthin: »Ich fang schon mal an, aber den Schlüssel brauchen wir noch, und am besten auch die Beschläge.« Dann geht er einfach weiter.
Ilka platzt mitten in ein familiäres Großereignis. Alina liegt zusammengerollt in der Wiese wie ein zitternder Igel und schluchzt, Amos trippelt aufgeregt um sie herum und zetert auf eine nur für Kleinkinder verständliche Weise, die aber präzise nachahmt, was hier gerade vor sich gegangen ist. Von Joshi keine Spur. Leo läuft vor Alina auf und ab, fuchtelt mit den Armen und psychologisiert, wie Ilka annimmt. Theoretisch machen sich Ilka und Leo über ihren Hang zum Psychologisieren gerne lustig, gemeinsam, solange der Familienhimmel klar ist. Theoretisch wissen sie, dass es überhaupt nichts bringt, dass man Kindern nicht kommen kann wie analysegläubigen Erwachsenen, und dass sie sich in dieses Ursache-und-Wirkung-Gerede sowieso nur aus Hilflosigkeit flüchten. Und natürlich, weil sie mit ihren Kindern umgehen wollen wie mit vernünftigen Menschen, obwohl Kinder vielleicht gänzlich andersartige Wesen sind, die in der Ausnahmesituation nur mehr sehr wenig brauchen und verstehen, Tadel oder Trost zum Beispiel.
Ilka bleibt stehen und kneift die Augen zusammen. Es ist Gesetz, dass der, der nicht dabei war, sich nur einmischt, wenn er darum gebeten wird. Das Gesetz hat sie selbst aufgestellt, weil es sie wahnsinnig
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