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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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macht, wenn Leo den begütigenden Onkel gibt, obwohl er gar nicht weiß, was vorgefallen ist. Da nützt auch nichts, dass Leo eigentlich immer nur sie beruhigen will, nicht die Kinder, die brüllt er selber oft viel lauter an.
    Es ist merkwürdig, dass keiner sie bemerkt. Normalerweise hat zumindest Amos noch den sechsten Sinn für die Mutter, die Weiterentwicklung des unfehlbaren Geruchssinns der Neugeborenen. Ilka betrachtet ihre Familie wie einen Film. Es ist nicht schwer zu erraten, was vorgefallen ist. Alina wird wieder einmal versucht haben, Joshi zu erziehen. Oder sie hat ihn vertratscht, was Joshi noch weniger erträgt. Am schlimmsten ist, wenn sie sich ihre eigenen Wohltaten zugute hält, etwa die unauffällige Erinnerung von vorhin, das Gartentor aufzusperren. In einem Punkt sind sich die beiden auf verblüffende Weise ähnlich: Sie wollen partout keine Fehler machen.
    Alinas zwänglerischer Charakter und ihre weibliche Umsicht bilden allerdings wesentlich bessere Voraussetzungen dafür. Joshi, der temperamentvolle Träumer, unterliegt auf diesem Gebiet immer, und dass er theoretisch dieselben Ansprüche an sich selbst hat wie sie, erkennt man nur post festum, an seiner vulkanischen Wut.
    Ilka hat sich natürlich tausendmal gefragt, ob sie Alina anders behandelt als Joshi. Ob man Kinder überhaupt gleich behandeln kann, so verschieden, wie sie sind. Leo ist der saloppen Meinung, dass man, wenn man sich grundsätzlich bemüht, nichts falsch machen kann. Dass alles, was man falsch macht, erst die Reibung erzeugt, die den Charakter der Kinder schärft. Dass der Mensch an der Frustration reift und nicht an engelsgleicher Geduld und fragwürdiger Gerechtigkeit. Dass also alles gut ist, wie es ist, und man sich erst den Kopf zerbrechen soll, wenn es echte Probleme gibt. Ilka könnte das hundertprozentig unterschreiben, für normale Familien, obwohl sie gerne sagt, dass Familien grundsätzlich nicht normal sind. Aber sie, sie sind wirklich eine Ausnahme, nicht wegen Judith, Leos inzwischen erwachsener Tochter, die früher auch regelmäßig bei ihnen war. Sondern weil Alina gar nicht ihre Tochter ist.
    Alina ist Ilkas Nichte, das Kind ihrer verstorbenen Schwester. Der Vater ist unbekannt, Fiona hat nichts hinterlassen, keinen Brief, kein Testament. Fahrlässig war das, wie Ilka findet. Ihr graut schon vor der Vorstellung, dass eine erwachsene Alina sich eines Tages auf die Suche nach diesem Vater machen könnte. Allerdings hat Ilkas Schwester auch kaum Zeit gehabt, ihre Angelegenheiten zu ordnen.
    Sie hatten lange nichts von ihr gehört, auch ihre Eltern nicht. Sie hatte sich auf eine Weise zurückgezogen, an die man seit einigen Jahren gewöhnt war, gekränkt, verbissen, unterschwellig vorwurfsvoll. Sie war nicht immer so gewesen. Als das Foto eines neugeborenen Mädchens mit der Post kam, hatte das alle überrascht und auf bessere Zeiten hoffen lassen. Aber es war bei diesem Foto, bloß mit Namen und Datum versehen, geblieben, bevor sich, kein Jahr nach der Geburt, die Ereignisse überschlugen.
    Ilka erhielt einen rätselhaften Anruf aus einem Krankenhaus. Sie eilte dorthin und fand ihre Schwester, die gerade für eine Operation vorbereitet wurde, die viel zu spät kam und deren Folgen sie nicht überlebte. Ob sie das vorher geahnt hatte, weiß Ilka nicht. Aus der Kinderabteilung wurde das kleine Mädchen gebracht; soweit sich Ilka erinnern kann, empfing sie es aus den Armen einer Krankenschwester. Fiona hat das Kind nicht mehr berührt. Nachdem sie Ilka mit wenigen steifen Worten darum gebeten hatte, sich um die Kleine zu kümmern, begann diese vor Hunger zu schreien und ersparte ihnen das, was man nachher Abschied hätte nennen müssen. Ilka sieht sich immer noch in dem kleinen Untersuchungsraum sitzen, in den sie eilig geführt wurde, das fremde Baby, das Alina war, auf dem Schoß, sie sieht sich mit einer Milchflasche hantieren, die das Kind immer wieder tobend wegstieß, weil Ilka das Verschlussplättchen nicht entfernt hatte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es Verschlussplättchen gab. Als sie zurückkamen, war Fionas Bett schon weg.
    Natürlich boten Ilkas Eltern an, Alina zu nehmen, natürlich bestürmten alle ihre Freunde sie, sich das Ganze gut zu überlegen. Plötzlich war Ilka so starrsinnig, wie man es vorher nur von Fiona kannte. Sie versuchte, Mutter zu sein, von einem Tag auf den anderen, und sie wird Leo nie vergessen, wie er das alles mitgemacht hat. Und weil sie es bald leid war, am

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