Laessliche Todsuenden
Spielplatz den »Geburtsberichten in Echtzeit« auszuweichen, bekamen sie Joshi. Als sie, viele Jahre später, noch einmal schwanger war, flüsterte sie Leo ins Ohr: »Ein Kind, ganz ohne Zwang und Zweck. Nur so.« Da wurde er aber böse.
Ilka steht am Rand und blickt auf ihre Familie. Sie haben sie noch immer nicht bemerkt. Etwas irritiert sie, sie sucht nach dem Fehler. Leo ist stehengeblieben, sein Hemd hängt hinten aus der Hose, Amos klammert sich inzwischen an seines Vaters Knie. Gleich wird er eindringlich »Aaam« rufen, damit Leo ihn hochnimmt. Amos hasst Streit, denn er kann nicht absehen, dass er enden wird. Auf einmal sieht Ilka, was sie gestört hat. Ein dünner schwarzer Faden, von Alinas Hals bis ins Gras. Mit einem unterdrückten Schrei läuft sie los, kniet schon neben dem Mädchen, zieht es in den Schoß und dreht es zu sich. »Butet«, kommentiert Amos, und Alina wird ganz bleich vor Schreck. In der Beziehung ist sie ein echtes, zimperliches Mädchen, das hat man in den Genen oder nicht. Ilka und Fiona waren ganz anders, Fiona besonders, die experimentierte mit Nadeln, Reißnägeln und ihrer Haut. »Verbandszeug«, kommandiert Ilka, und jetzt läuft Leo. Ilka streicht inzwischen die Haare des Mädchens weg und entdeckt, dass das Ohr am Ohrläppchen eingerissen ist. Typisch, dass ein Mann so etwas gar nicht sieht. Steht da, hält Volksreden und lässt das Kind bluten.
Ilka flutet ihr Gefühlschaos mit wohlfeilem Zorn. Sie reißt Leo das Verbandszeug aus der Hand und nestelt daran herum. »Kann man nicht einmal fünf Minuten weg sein, ohne dass sich die Kinder die Schädel einschlagen«, zischt sie, als wäre Leo schuld. »Joshi hat mich …«, wimmert Alina, aber Ilka unterbricht sie: »Ja, ja, schon gut. Du hast sicher auch irgendwas.«
»Als erstes hast du«, sagt Leo, dem solches Aufrechnen eigentlich fremd ist, »rennst weg wie nicht gescheit, man fragt sich, warum, und das war der Startschuss.« »Kommunizierende Gefäße«, fährt er fort, ein beliebtes familientherapeutisches Dogma der beiden, das sie sonst einig beschwören, aber Ilka sagt nur, gefährlich leise: »Halt jetzt sofort den Mund.« Alina zuckt zusammen, man weiß nicht, ob wegen der Jodlösung oder wegen Ilkas Ton, Leo reicht ein Stück Mullverband und versucht, das Thema zu wechseln: »Muss man das nicht nähen?« Da lässt Ilka Alinas Kopf zurück ins Gras rutschen, steht auf, gibt Leo die Mullkompresse zurück und sagt: »Das lässt sich wohl nur im Spital herausfinden. Eine schöne Aktion für den ersten Urlaubstag.« Leo stöhnt, schüttelt den Kopf und hilft Alina auf. In allen Familien, die sie kennen, liegt die Beurteilung, ob ein medizinischer Notfall vorliegt, allein bei den Frauen. Die Mütter wissen, wie man ein Zwiebelsäckchen für die Ohren macht und wann der fiebersenkende Wadenwickel kontraindiziert ist, sie unterscheiden Farbe und Konsistenz von Durchfall und Erbrochenem und sie haben dabei, Leo gibt das gerne zu, beachtliche Treffsicherheit erlangt. Ilka zieht außerdem meisterlich Zecken. Sie hat einmal mit einem Griff Joshis Zehe von einem Angelhaken befreit, und als das Baby einer weniger beherzten Freundin infektiöse Bindehautentzündung bekam, verbrachte Ilka den ersten Tag dort, um alle zwei Stunden zu tropfen. Wenn Ilka sich nun, aus unerfindlicher Bosheit, weigert, Alinas Ohr weiter zu behandeln, dann muss Leo mit dem Kind ins Spital fahren. So ist das eben.
Die Abfahrt gestaltet Ilka auf jene betont mütterliche Art, die sich direkt gegen den Mann richtet. Sie eilt hin und her und scheint überall gleichzeitig zu sein, sie holt ein Coolpack und ein Geschirrtuch für Alinas Ohr, sie bringt eine Trinkflasche für Amos und stellt sogar die Wickeltasche in den Kofferraum. Dass Leo offenbar auch Amos mitnehmen soll, überrascht ihn, aber bevor er sich wehren kann, wirft Ilka ihm einen Blick zu und sagt drohend: »Ich kümmere mich hier um den Rest. Das schließt das von dir ruinierte Schloss ein.«
Starr steht sie am Gartentor und sieht das Auto wegfahren. Sie hebt nicht einmal die Hand. Während sie zurück zum Haus geht, überlegt sie, ob sie die Sache mit Joshi gleich erledigen oder auf später, auf nach-dem-Schloss, verschieben soll. Die Entscheidung ist vertrackt. Entweder verdirbt ihr ihr Sohn den Besuch bei Jan, oder ihr Besuch bei Jan löscht ihre Wut auf Joshi und bewahrt ihn vor seiner gerechten Strafe.
Als sie in die Küche geht, um ein Glas Wasser zu trinken, bemerkt sie eine Bewegung.
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