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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Joshi hockt unter dem Küchentisch, ganz bei der Wand, und hält den Kopf starr gesenkt, ein fast komisches Sinnbild des Trotzes. Es ist die Weiterentwicklung des frühkindlichen Spiels: »Wenn ich die Augen schließe, sieht man mich nicht«. Amos glaubt noch absolut daran, aber bei Joshi ist es ins Aggressive gedreht: »Ich schau dich nicht an, also bist du nicht da.« Bleib ruhig, ermahnt sich Ilka, gib ihm eine Chance. Sie kriecht unter den Tisch und setzt sich neben ihn. »Joshi, was war los?«, fragt sie. Er schreit auf und dreht den Kopf noch mehr zur Wand. »Joshi, bitte, sprich mit mir«, sagt sie, »ich war doch nicht dabei. Ich will nur wissen, wie es dazu gekommen ist.« Dass Alina mit einem blutenden Ohr ins Krankenhaus muss, denkt sie den Satz weiter, aber sie sagt ihn noch nicht, das hebt sie sich für die Eskalation auf. Die Joshi ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ersparen wird. Wer weiß, ob er überhaupt schon mitbekommen hat, dass Alina ins Spital gebracht wurde.
    Er schweigt weiter und rührt sich nicht, mit unnatürlich verdrehtem Hals. Ilka fallen die silbergrau geschminkten Gaukler in den Fußgängerzonen ein, die Denkmal spielen. Ein idealer Ferienjob für dieses Miststück, denkt sie, jetzt noch zu jung, aber in ein paar Jahren?
    »Joshi«, sagt Ilka drohend, »ich bitte dich, etwas zu sagen. Red mit mir!« Dabei weiß sie genau, wie sie ihn zum Reden bringen könnte. Sie müsste liebevoll sein, ihm den Arm um die Schultern legen, sich den Arm dreimal abschütteln lassen; beim vierten Mal dürfte er bleiben. »Ich weiß, du fühlst dich jetzt ganz schlecht«, müsste sie ihm ins Ohr flüstern und dabei vielleicht sein Ohr noch küssen. »Willst du eine Banane? Eine Tasse warme Milch? Sollen wir zum See hinuntergehen? Vielleicht ist es dort zum Reden schöner?« So müsste sie sein, sie müsste ihn mühsam erobern, sie müsste ihn trösten. Dafür, dass er sich selbst jetzt so hasst und gleichzeitig so unverstanden fühlt. Das wäre beinharte Arbeit. Ein paarmal, sie könnte es an den Fingern abzählen, ist es ihr oder Leo gelungen, und sie haben Joshi zurückgelockt in ihre Welt, in der Reue, Buße und Strafe so ablaufen, wie sie das für richtig halten. Aber meistens fehlt ihr die Selbstbeherrschung. Vor allem fehlt es ihr an Selbstverleugnung. Es ist nicht gerecht. Was immer vorgefallen sein mag, Alina hat ein abgerissenes Ohr (der Liebe Herr ÜberIch weist sanft darauf hin, dass das etwas übertrieben ist, aber Ilka ignoriert ihn). Alina, die arme kleine Waise, ist verletzt, sie blutet und hat vielleicht bald Fäden im Ohr, Joshi dagegen ist unversehrt, das genügt der Untersuchungsrichterin. Schlagen und ähnliches sind absolut verboten, »Konflikte müssen ohne Gewalt ausgetragen werden – wer das schafft, schafft alles«, diesen Satz hat Ilka schon so oft gesagt, dass sie kotzen könnte.
    Bei Amos beschreitet sie inzwischen andere Wege, ganz heimlich, versteht sich. Wenn er sich in der Sandkiste um irgendein Spielzeug zu prügeln beginnt, dann greift sie nur im Notfall ein. Stattdessen beobachtet sie ihn gespannt, während sie hofft, dass die Mutter des Gegners unaufmerksam ist. Verderben wir unsere Kinder durch die ganze Einmischung? Meistens ist es Amos, der schnell aufgibt und sich wegdreht, manchmal das andere Kind. Der physische Konflikt dauert immer bloß Sekunden, nur das Geheule dauert bei Bedarf länger. Aber hier geht es nicht um Zweijährige.
    »Jo-oshi«, sagt Ilka, »ich hab dir hundertmal gesagt, was ich am allermeisten hasse, ist dieses Schweigen. Ich hasse es sogar mehr als das Schlagen. Ich kann nichts dafür. Du bestrafst mit dem Schweigen eine Unschuldige. Sag bitte, dass du gleich mit mir reden wirst.«
    Joshi sagt nichts, stattdessen quietscht er noch einmal und kriecht beinahe in die Wand hinein. Da reißt in Ilka drin mit einem leisen »Pling« diese dünne Schnur, die den blickdichten Vorhang trägt, und dahinter kommt schon der ganze Hang herunter. Das fühlt sich immer gleich an, nämlich ein paar Sekunden lang so wollüstig wie einen Gelsenstich zu kratzen, bis er blutet, danach aber sehr viel länger wund. Ilka ist eine, die sich sogar beim Kontrollverlust in gewissem Ausmaß zuschauen kann. Zuschauen, aber nicht aufhalten. Sie steht mit einem Ruck auf, stößt sich dabei hart die Schulter an der Tischkante, flucht, fällt nach vorn auf die Knie, packt Joshi am Oberarm, drückt ihm die Nägel ins Fleisch, so fest sie kann, und zerrt ihn heraus.

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