Laessliche Todsuenden
die längst vorformulierte Geschichte, die allerdings für ein ganz anderes Publikum gemacht wurde, ein Publikum, das Ilka so gut kennt wie umgekehrt. Auf ihre Geistreicheleien hat Ilka sich immer verlassen können. Schon in Studentenzeiten galt sie als Ausnahme, als »witzige Frau«, wie es ihr Studienkollege Franz, aus dem später ein Dichter wurde, lobend formuliert hat. Wenn es noch andere witzige Frauen gab, dann waren sie dick, rothaarig und burschikos und versuchten sich später als Kabarettistinnen; Ilka mit ihren Feenmänteln und der Porzellanpuppenfigur war so gesehen outstanding . Leider fehlt Jan dieses Vorwissen. Er hat die Feile sinken lassen und starrt sie wieder an. Gerade war sie beim Schattendorfer Bürgermeister und dem Kaschmirpullover, jetzt zieht sie sich den Zeigefinger horizontal über die Kehle, um das Schicksal des Kaschmir-Diebs zu verdeutlichen. Da scheint ihr Jans Gesichtsausdruck doch erkennbar in den Abscheu zu rutschen. Aber wenn Ilka in den vielen Jahren, in denen sie ihre Freunde mit Anekdoten unterhalten hat, eines gelernt hat, dann war es: sich nicht rausbringen lassen. Niemals einfach mittendrin aufhören und sich ängstlich vergewissern, sondern selbst im Katastrophenfall eines gelangweilten oder schockierten Publikums einfach weiterreden, die Geschichte anpassen, den Ausweg im Angriff suchen. Sie hat keine andere Waffe, glaubt sie. Sich wie andere Frauen in Gesellschaft mit Schweigen und Schäkern zu begnügen, das war ihr immer zu passiv. Vielen Männern redet sie zu viel; das weiß sie. Aber das sind die, die das alte Modell Frau bevorzugen, jenes, das genießt oder auch nicht, aber auf jeden Fall schweigt. Jan scheint so einer zu sein. Sei’s drum. Vielleicht ist er auch nur politisch korrekt. Vielleicht weiß so ein Computerfachmann nicht, dass man schon wieder herablassend über »den Rumänen« reden kann, ohne gleich ein Rassist zu sein. Im Gegenteil. Man muss die politische Korrektheit überwinden, denn die führt ja nur in einen anderen, subtileren Rassismus. Was für ein bodenloser Unsinn, murmelt der Liebe Herr ÜberIch.
Ilka schwenkt ein in die Schlusspointe, dass sie »gleich morgen« die umliegenden Ortschaften nach ihren exklusiven Gartenmöbeln absuchen wird und, sobald sie sie gefunden hat, freundlich lächelnd die fehlenden zwei Sessel vorbeibringen wird, »Guten Tag, hier sind noch zwei, tut mir leid, dass sie nicht mehr in Ihren Kofferraum gepasst haben«. Ende. Vorhang. Kein Applaus, nicht einmal ein Lächeln.
Ilka sieht auf ihre Finger, lässt die Knöchel knacken und weiß nicht weiter. Da kniet auf einmal Jan vor ihr und scheint ihr den Beutel mit den Beschlägen vom Schoß nehmen zu wollen. Doch legt er nur seine Hände darauf. Die Unterarme liegen auf Ilkas Knien. Jetzt, denkt Ilka und wird panikstarr. Jetzt wird er gleich alles falsch machen.
Stattdessen beginnt er mit dem Satz »Das meiste ist doch anders, als man denkt« eine Geschichte zu erzählen, an der nur seltsam ist, dass er sie flüstert, als müsste er ein Kind beruhigen. Die Geschichte selbst ist nicht sehr interessant, und Jan unterspielt selbst mögliche Pointen, aber Ilka lauscht vor allem seiner Flüsterstimme. Die Geschichte handelt von seinem kleinen weißen Auto, in das er als Student alle Ersparnisse investiert hat, ein hässlicher Peugeot, mit dem er ein paar Jahre nach der Wende nach Prag gefahren ist. Kein Auto zum Stehlen, die miese Kiste, davon war er überzeugt, aber schon nach der ersten Nacht war sie weg. Bei der Polizei hat man ihm die Statistik gezeigt, je kleiner und älter die Autos, desto beliebter bei den Dieben, kleine Peugeots, Fiats, ja, sogar die 2CV-Enten, bei uns schon fast ausgestorben, führten die Hitliste an. Ein dicker Mercedes war viel sicherer, Mitte der Neunziger in Prag, weil er viel auffälliger war. »Wir denken nicht wie Diebe«, flüstert Jan, und Ilka glaubt für eine kleine, blamable Weile, das sei das Poetischste, was sie seit langem gehört hat, »wir denken nicht wie Diebe, also mach dir keinen Reim.«
Ilka hält den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, jetzt wartet sie auf den Kuss oder was immer Jan für richtig hält, to begin with . Aber nichts geschieht. Als sie die Augen wieder öffnet, ist Jan schon woanders und hat eine Schweißermaske auf. Beinahe erschrickt sie. »Bin gleich fertig«, sagt er. Fertig mit mir?, denkt sie und fühlt sich plötzlich alt. Was hat sie vorher, am See, in diesem mönchischen Mann gesehen, kantig wie
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