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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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stand er, anstatt sich zu kratzen, mitten in den langen Konferenzen einfach auf, murmelte etwas von Details, für die er wohl nicht mehr gebraucht werde, und ging. Er lief dann oft nur kreuz und quer durch die Stadt, stöberte in Antiquariaten, trank im Stehen irgendwo eine Melange und dachte nach. In der ersten Zeit traf er einige ungewöhnliche Entscheidungen, strukturierte um und engagierte die umstrittene Werbeagentur von Jaakov Brendel. Während ihn viele für eine eklatante Fehlbesetzung hielten, schrieb eine Journalistin in einem Wirtschaftsmagazin ein Porträt mit dem Titel »Der Freigeist als Ökonom«. Cajou scherte sich nicht darum. Er hatte ein Bild der Firma im Kopf, wie sie funktionieren und wie sie nach außen wirken sollte. Weder den Bankleuten noch den Kollegen gestand er Einwände gegen seine Ideen zu, weil er sie für Fachidioten hielt. Stattdessen traf er sich mit Künstlern, die ihn auf andere Gedanken brachten. Später würde er zurückschauen und das für die beste Zeit seines Lebens halten, als er eine ganze Weile lang relativ sicher war, das Richtige zu tun, und ihm das sogar Spaß machte.
    Mit den Menschen musste man sich allerdings anders arrangieren. Man konnte ihnen in den Konferenzen entkommen, aber außerhalb fingen sie einen umso unerbittlicher ein. Ein Chef war auch ein Therapeut, das hatte Cajou vorher nicht gewusst, und es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu verbergen. Cajou sah dann aus dem Fenster auf die Kirche Maria am Gestade und träumte sich weg. Später hatte er ein schlechtes Gewissen, stürzte in die Zimmer seiner Mitarbeiter, stieß Versprechungen aus wie andere Leute Flüche und floh dann wieder vor ihren überraschten, erschrockenen Mienen.
    Zweimal im Jahr waren Marie-Thérèse und er abends bei Helmut Url und Frau eingeladen. Url war Cajous rechte Hand, ein fraglos intelligenter Sozialdemokrat, rotgesichtig, schnauzbärtig, Hobbyhistoriker. In der Firma kamen sie gut miteinander aus, doch die privaten Treffen waren Cajou eine Qual. Url behielt sie beharrlich bei, obwohl die Gegeneinladung, die gewiss erwartet wurde, niemals kam. Marie-Thérèse staunte immer wie ein Kind, doch das bemerkte nur Cajou. Ihr Verhalten war tadellos in dem Sinn, dass sie sich so locker und herzlich gab, als äße sie täglich, vor einer Mahagoni-Einbauwand, mit Knoblauch gespickten Fasan. Das waren die Kleinigkeiten, über die Cajou sich hätte totlachen mögen, wenn er gewusst hätte, mit wem: Dass die Urls Fasan servierten, von dem sie zwar nicht wussten, wie man ihn zubereitete, aber Fasan musste es sein, bei diesen Gästen, denen man sich kein Schnitzel aufzutischen getraut hätte. Dass Urls Frau, die nicht Frau Url hieß, sondern unter ihrem Mädchennamen Lokalpolitik bei den Grünen machte, Marie-Thérèse für ihre Berufslosigkeit wahrscheinlich verachtete, sie aber Herrn Url und dessen beruflichem Fortkommen zuliebe nach den Kindern ausfragte, weil niemand wusste, worüber man sonst mit ihr sprechen könnte. Ein einziges Mal hatte Cajou erwähnt, dass Marie-Thérèse bei ihrem Onkel das Restaurieren von wertvollen Holzblasinstrumenten erlernte, aber das hatte nur zu neuen Verklumpungen im Gespräch geführt, weil die Urls von alter Musik nichts verstanden, aber dafür viel von der Geschichte der Arbeiterbewegung.
    Dass nie etwas wie geschmiert lief, sondern dass es immer hakte, sich spießte und ihn peinigte, lag nicht an den Urls und nicht an Marie-Thérèse, es lag auch nicht an den Fallen eines hoch differenzierten Gesellschaftsgefüges, dachte Cajou, es lag ausschließlich an ihm. Er hatte ein überentwickeltes Gefühl für Peinlichkeit, das ihn geradezu lähmte. Er grüßte oft Menschen auf der Straße nicht, weil er sie früher sah und es ihm unangenehm war, sie aus ihrem unbeobachteten Gestiere zu reißen. Er selbst hasste das. Da machte man ein Gesicht, weil man an etwas dachte, und plötzlich fuhr so ein lautes »Grüß Gott« oder »Verehrung, Herr Direktor« in einen hinein, man zuckte zusammen, man war beobachtet worden. In demselben Moment, in dem man verkrampft-herzlich, in jedem Fall falsch, den Gruß zurückgab, versuchte man sich zu erinnern, woran man gerade gedacht und was man damit möglicherweise preisgegeben hatte. Deshalb grüßte er oft lieber nicht, sondern schaute schnell und, wie er meinte, dezent weg, was ihm natürlich als Hochnäsigkeit ausgelegt wurde, im besten Fall als Zerstreutheit, wie sie in seiner Position allerdings unverzeihlich war.
    Am Ende

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