Laessliche Todsuenden
nicht einzugestehen, dass er diesen Feind beinahe liebte. Theo dachte ganz anders als die Leute, an deren Rand sich Cajou bewegte, aber er dachte wenigstens. Cajou gab in diesen Gesprächen den Skeptiker, aber oft genug konnte Theo ihm nachweisen, dass er der Starre war. Und womöglich holte sich Cajou hier spielerisch Argumente, die besten, die er kriegen konnte, für eine innere Revision.
Cajou mit Theo auf den Waldwegen, der eine im sogenannten Räuberzivil, der andere in Loden und Leinen: das war wohl auch ein Nachholen der Kindheit, wo Cajous Vater ihm hätte erklären sollen, was es bedeutet, so geboren zu sein, nämlich kein Privileg, sondern eine Herausforderung. ›Zwischen rechts und links gibt es immer ein Geradeaus.‹ ›Wer spät aufbleibt, wird noch demjenigen begegnen, der am Morgen früh aufsteht‹ – solche Zitate bekam Cajou von Theo wie Geschenke überreicht, aber er brachte es nicht über sich, ihm ins Gesicht zu lachen. Er hätte sich damit selbst lächerlich gemacht.
Und Marie-Thérèse passte zu diesem Sommer wie ein Blumenarrangement von Sophie. Eines Tages, als Cajou und Theo von ihren Spaziergängen zurückkehrten, saß sie im Garten, das jüngste Kind des Hauses auf dem Schoß, beide über und über mit Heidelbeerkompott verschmiert. An jedem anderen Ort der Welt hätte Cajou sich nach wenigen Sätzen abgewandt. Bei Isoldes Leuten hätte er sie wahrscheinlich zum Gegenstand einer seiner Parodien gemacht, gefeiert mit Strömen von Wodka, aber in diesem Sommer, in dem die Zeit rückwärts zu laufen schien, da konnte der naive Faun unversehens zum heiß begehrten Widerpart werden, zum äußersten Gegenteil, mit dem sich zu vereinen vielleicht einen ausgewogenen Zustand verhieß, zwischen seinem bitteren Zweifel und ihrem völlig grotesken, enthusiastischen Welt- und Gottvertrauen.
Nein, Cajou hat sich nicht Hals über Kopf in dieses zwanzigjährige Geschöpf verliebt, das so ahnungslos und selbstsicher war, als sei es die letzte Bewohnerin des Paradieses, eine doppelte Jungfrau, für die noch nicht einmal der Sündenfall galt. Er fand Gefallen an ihren reizenden Dummheiten, schon das war erstaunlich genug. Er ließ sich etwa ganz ernsthaft die Phasen des Mondes erklären, wann man die Haare schneiden durfte, die Hecken und die Nägel, wann auf keinen Fall gepflanzt oder gesät werden dürfe. Sie schwärmte von den richtig geschlägerten Christbäumen, die noch ein Jahr später kaum Nadeln verlören, und den anderen, die schon zu Silvester trocken seien wie ägyptische Mumien. Ägyptische Mumien, das war ihr Vergleich, und später, im Zorn, dachte Cajou manchmal daran als an einen der ganz wenigen Anhaltspunkte, dass sie wirklich irgendeine Art von Schulbildung genossen hatte.
Marie-Thérèse war unbedarft, in einem hochartifiziellen Sinn. Ihre Gedanken waren klar und einfach wie die der Urchristen. Sie benutzte keine Schminke, sie trug flache Schuhe mit kleinen Schleifchen, als käme sie aus dem Ballettunterricht, sie liebte Peter Alexander und die Sissy-Filme mit Romy Schneider, sie wusste nicht, wo der Libanon lag. Sie war aber schon in Lourdes gewesen und wünschte sich sehnlich, einmal bei der schwarzen Madonna von Tschenstochau zu beten, doch leider waren dort ja die Kommunisten am Werk. Einige Zeit später entdeckte Cajou, dass die einzigen Menschen, gegen die sie wirklich tiefe Vorurteile hegte, Juden waren, obwohl sie natürlich keine kannte. Cajou, der bisher diese standestypischen Gestörtheiten alle in einen Topf geworfen hatte, würde dank seiner professionellen Marie-Thérèse-Beobachtungen bald zwischen wirklichen und den üblichen Vorurteilen unterscheiden lernen, Bürgerlichen, Arbeitern, Sozialisten gegenüber. Da hatten Menschen wie sie automatisch Ressentiments, die sie aber angesichts vernünftiger, sympathischer Exemplare der einzelnen Gattungen gewöhnlich überwanden, jedenfalls so weit, dass vorsichtiger Umgang möglich wurde.
Wie gesagt, Cajou verliebte sich nicht, jedenfalls nicht gleich. Doch sein Spieltrieb erwachte. Erst redete er sich ein, dass er seine hochwohlgeborene Eliza Doolittle nur bilden wolle. Er schleppte aus Theos Bibliothek Bildbände herbei, Richter, Lassnig, Kippenberger, doch sie begeisterte sich für Fresken, sakrale Kunst und Bauernmöbel. Er gab ihr Bernhards »Kalkwerk« zu lesen, doch als er sie mit diesem Buch und dem Ausdruck eines Kindes vor einer schweren Prüfung im Garten Platz nehmen sah, erkannte er das als Fehler und nahm es
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