Laessliche Todsuenden
ihr, fast unwirsch, wieder weg. Es war nicht so, dass man nicht mit ihr reden konnte, im Gegenteil, es war manchmal anregend, sie mit Fragestellungen aus der Politik zu konfrontieren. Ihre Lösungsvorschläge waren in einem philosophischen Sinn bestechend, auch wenn sie Traumgespinste waren. Sie war fest davon überzeugt, dass zwischen Gut und Böse eine robuste Mauer verlief, so unüberwindlich wie jene in Berlin, und es war unmöglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Theo beobachtete Cajous Geplänkel mit Unbehagen. »Sie ist nicht zum Spielen«, warnte er einmal, »du kennst ihren Vater nicht.« – »Noch nicht«, antwortete Cajou und hielt das für einen verwegenen Scherz.
An einem der letzten Wochenenden, während draußen ein griesgrämiger Frühherbstregen herunterrauschte, versuchte Cajou Marie-Thérèse in der Bibliothek zu küssen. Sie drehte weder den Kopf weg, noch zeigte sie Einverständnis, sie erstarrte einfach, und als er irritiert wieder von ihr abrückte, da vermittelte ihre ganze Haltung eine solch profunde Peinlichkeit, dass er nicht umhinkonnte zu verstehen, sie genierte sich ausschließlich für ihn.
Zurück in der Stadt, fühlte er sich flau. Zum Glück war in der Firma genug Arbeit da für sieben Tage und Nächte, und er griff dankbar zu. Er genoss die Überforderung, das Gegenteil des kontemplativen Lebens auf dem Land, er behalf sich mit schwarzem Kaffee und strategisch eingesetztem Koks hier und da. Er schlief sehr wenig. Er befand sich in ständiger Alarmbereitschaft. Beim Einschlafen sah er manchmal sein Gehirn vor sich, wie es unablässig arbeitete, die gelb-grauen Schläuche in ihrer harten Schale. Von Isolde hörte er nichts, das empörte ihn wider besseres Wissen. Abend für Abend taumelte er überdreht aus der Firma und hielt sich für einen Helden, wenn es ihm gelang, nach Hause zu gehen und dort nach einer Flasche Rotwein einzuschlafen, anstatt hinauf nach Sievering zu fahren. Je weniger Gelegenheit er sich selber gab, an Isolde zu denken, desto heimtückischer überfiel ihn die Sehnsucht. Er schlief ein paarmal mit der Prokuristin, weil ihm nichts Besseres einfiel. Anschließend wand er sich vor Verlegenheit, wenn sie ihm in ihrer olivgrünen Einbauküche noch einen »Drink mixen« wollte, und verabschiedete sich so schnell wie möglich, mit durchsichtigen, halb verschluckten Ausreden.
An einem Freitag im September, in der faulig kriechenden Dämmerung nach einem goldenen Herbsttag, war er schließlich fällig. Er musste Isolde noch einmal sehen, ein einziges Mal wollte er sie zu seinen Spielregeln zwingen, zu einer Aussprache, einer Bilanz, irgendetwas, womit es eingeordnet wäre. Dass sie ihm schon im Garten entgegenlaufen würde, mit den Worten »mein Kakanus ist zurück«, hätte einen anderen vielleicht weniger überrascht. Dass hinter ihr aber Franz Gregor aus dem Haus trat, mit einer Gartengummihose wie der Hausherr und der Miene des gehörnten Ehemanns, brachte Cajou beinahe schon wieder zum Lachen. Er ließ sich umarmen, er ließ sich in den Schritt zwicken, er ließ sich die Zunge in den Mund schieben, er packte seine schwarze Hexe und hob sie sich an den Hals. Sie hatten dann einige Mühe, Gregor, der nicht mehr ganz nüchtern war, zum Gehen zu bewegen. Cajou war noch voller Reue um all die verlorenen Tage und Nächte, er fühlte sich unendlich dumm und trotzig, er ließ sich die Hose öffnen und holte sich seine herrliche Isolde auf dem Teppich vor dem Kamin zurück, er sah, zufrieden und verletzlich, schon eine lange Reihe solcher Winternächte in Isoldes außerirdischem Reich vor sich, da drehte sie sich plötzlich eine Haarsträhne um den Zeigefinger, gestand, von Gregor schwanger zu sein, und dass sie es jetzt mit ihm wenigstens versuchen müsse.
Zu der Szene, die folgte, hatte Cajou lange Zeit ein ungestörtes Verhältnis. Noch zwanzig Jahre später, als er zum ersten Mal davon erzählte, war er mit sich und seiner Reaktion völlig im Reinen. Er stand auf, zog sich die Hose hinauf und ging. Das war nicht so einfach, weil Isolde es zu verhindern versuchte. Er erinnerte sich an einen Moment auf der Schwelle, an eine Mischung aus Triumph und Scham, Isolde kniete und umklammerte seine Knie, aber er stand kerzengerade und versuchte wie ein gequälter Storch seine Beine zu befreien. Er fühlte sich ganz kalt und gar nicht mehr anwesend. Was wollte sie? Was wollte sie plötzlich von ihm? Wenn er nachgegeben hätte, wenn er sich noch einmal zu ihr hinuntergebeugt
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