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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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höchstens von der Logik einer Übersprungshandlung. Meine sogenannte Antwort war um nichts besser: »Ich habe Percass noch einmal als Erwachsenen gesehen.«
    »Jetzt machst du dich wieder wichtig«, stöhnte Ilka, die wenig Kondition zu haben schien, und ich gab zurück: »Deshalb hab ich dich nicht angerufen.«
    »Weshalb nicht?«, fragte sie, als sie das Tor zum ›Kore‹-Garten mit der Schulter aufdrückte. Sie sah inzwischen in einem Ausmaß derangiert aus – von Schweiß und Tränen verlaufene Schminke, die lila Feder in ihrem Haarknoten abgeknickt, dazu, wie ich wusste, auf der Innenseite ihres Schenkels die Laufmasche –, dass ich sie beinahe wieder so unwiderstehlich fand wie vor zwanzig Jahren. So war sie immer gewesen, sobald sie sich in die sozialen Schlachten warf, innerlich felsenfest, aber äußerlich mitgenommen.
    »Weil«, sagte ich und hielt sie vor der Eingangstür für einen Moment am Ärmel fest, »du auch jeden anderen x-beliebigen Zeitpunkt als Inszenierung empfunden hättest.« Ilka sah mich neugierig an und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich entdeckte, dass sie ihr Muttermal am rechten Wangenknochen hatte entfernen lassen. Natürlich war sie älter geworden. Ihre Lach- und ihre Skepsisfältchen waren nun auch zu sehen, wenn sie nicht lachte oder das Gesicht verzog, aber sie verstand mich genauso gut wie eh und je. Und genau wie früher gab sie keinen Kampf vorzeitig auf. »Aber einen x-beliebigen Tag«, fragte sie gedehnt, fast versonnen, »halt an keinem, an dem zufällig der Sohn unseres Professors verunglückt ist, oder deine Großmutter gestorben oder am elften September …?«
    Ich ließ sie los und verschränkte die Arme. Der Stich mit der Großmutter saß. Damals, vor vielen Jahren, hatte ich Ilka zum letzten Mal angerufen, weil ich mich darauf verließ, dass ihr großes Herz ihr schon gebieten werde, mich auf das Begräbnis zu begleiten. Anschließend waren wir auf meinem Kummer und ihrem Trost wie natürlich miteinander ins Bett gerutscht, aber das war einfach keine gute Idee gewesen. Das musste ich zugeben. »An einem x-beliebigen Tag, liebe Ilka«, sagte ich daher und versuchte, mokant dreinzusehen, »fällt vielleicht irgendwo auf der Welt ein seltenes Tier aus unerklärlichen Gründen tot um. Du hättest das in der Zeitung gelesen und gerufen, Stefan, wie unglaublich pathetisch, gerade heute!« Ilka lachte hell auf, und mein Glück darüber muss mir, trotz aller Vorsicht, ein bisschen anzusehen gewesen sein, denn schon drängte sich die Aufgabe wieder vor, das höhere Gut, das keinen Aufschub duldete. »Komm schnell«, wisperte sie und drückte die Klinke herunter, »der arme Hay wartet schon.«
    Das ›Kore‹ war schockierend leer und still. Ich kannte es nur überfüllt, von Rauchschwaden durchzogen, fast ohrenbetäubend laut von der Espressomaschine, dem davon bedingten Geschrei der Gäste und dem Geschirrklappern in der zum Gastraum hin offenen Küche. Trotzdem warteten die Leute gern im Eingangsbereich auf einen Tisch, denn das Essen war anständig und das Ambiente »einfach reizend«, wie Ilka wohl gesagt hätte. Normalerweise mischten sich hier ganz selbstverständlich Touristen, alte Frauen, die regelmäßig Grabpflege betrieben, blutjunge Liebespaare, deren Innenleben dem melancholisch verkommenen jüdischen Abschnitt des Friedhofs gerade entsprach, und Studentengruppen, die nach ihren ausgedehnten Exkursionen in Sachen Genrefotografie (Engel und Efeu in Massen und auf jeden Fall schwarz-weiß) dringend eine Erfrischung brauchten.
    Doch nun war es hier ganz still und frisch gelüftet, das Sonnenlicht funkelte in den bunten Strasssteinen der Luster vom Kunstgewerbemarkt, und überall lagen makellose weiße Tischdecken. An kleine Blumenvasen gelehnt standen, Tisch für Tisch, Fotos eines ausgelassen lachenden Percass genauso akkurat, wie sie von einer Dienstkraft heute früh aufgestellt worden sein mussten. Er hat das ganze Lokal reserviert, begriff ich mit Entsetzen, es war so rührend wie großkotzig. Nur am Erkertisch gab es Bewegung. Drei Menschen standen auf, zwei blieben sitzen. Ich erkannte Haybach, der einem großen Mann die Hand schüttelte und ihm dabei linkisch auf die Schulter klopfte, danach eine kleine, kraushaarige Frau auf beide Wangen küsste und dann auf seinen Stuhl zurückfiel, als versagten ihm die Beine. Das Paar kam entschlossen auf uns zu, der Mann nickte nur kurz und finster, die Frau schaute neugierig und beinahe amüsiert. Dann

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