Lakritze - Thueringen Krimi
wusste es besser als er.
Er konnte ihr vertrauen.
Das Leben wurde erträglich, zumindest bis zu dem Junitag vor fünfundzwanzig Jahren. Er und Ira hatten gestritten, dort im Steinbruch unter ihrer Eiche, der schräg stehenden. Sie hatten es eigentlich nicht mehr nötig, sich dort draußen zu treffen. Die Fleischerei gehörte jetzt Helene und ihm, sie hätten es sich im Haus gemütlich machen können. Doch Ira liebte das Freie.
Wie immer hatte sie seine Hände geführt, sie hatte ihn wild gemacht, aber es war ihr nicht genug gewesen. Sie hatte verlangt, dass er sich Fräulein Lilo aus dem Kopf schlagen solle. Die würde ihn ohnehin hassen, weil er ihren Liebsten umgebracht hätte.
Lattkowitz und Fräulein Lilo?
Er war wie erstarrt gewesen. Dann hatte er begriffen. Nicht von Fräulein Lilo drohte die Gefahr, sondern Ira war es, die ihn vernichten wollte. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass er ihren Vater erschlagen hatte. Wenn sie ihn bislang nicht verraten hatte, dann nur, weil sie mit ihm spielen wollte. Und als er das verstand, hatte Knubbel gehandelt.
Anderthalb Jahre später war er von der Schule abgegangen. Helene und er waren von Sachsen nach Thüringen gezogen. Er hatte geglaubt, er hätte endlich alles überstanden. Fräulein Lilo hatte er sich aus dem Herzen gerissen, und Ira war vergessen. Nie würde er das Miststück wiedersehen.
Doch seither fühlte er sich von Ira verfolgt. Schon in den ersten Jahren hatte er sich, wenn er unterwegs war, immer wieder umgedreht und versucht, die Augen zu entdecken, die ihn ständig beobachteten. Daran hatte er sich bis heute noch nicht gewöhnt.
Knubbel ballte die Hände so sehr, dass sie zitterten. Mehr denn je drängte es ihn, sich Helene anzuvertrauen. Vielleicht konnte sie ihn von der ständigen Qual befreien.
Die leisen Stimmen in seinem Kopf wurden lauter, sie stritten. Fuchs, du hast die Gans gestohlen . »Hört auf«, flüsterte er, »hört endlich auf.«
Doch die Stimmen scherten sich nicht um ihn. Sein Schädel dröhnte, als trampelte eine ganze Armee in ihm herum.
Der Riegel der Badtür schabte, als er zurückgeschoben wurde. Ehe Helene herauskam, taumelte Knubbel davon.
Er schleppte sich über den Hof in den Stall. Der vertraute Geruch nach Heu und nassem Stroh empfing ihn. Er grub sich zwischen die Ballen. Über ihm zog ein leichter Wind durch die Ritzen der Bretterwände, ein alter Balken ächzte schwach, als wolle er ihm etwas zuflüstern.
Knubbel wühlte sich aus seinem Versteck und tastete nach dem Holz. Seine Fingerspitzen fuhren vorsichtig über die kleinen Haken, die an einem Band an den Balken getackert waren. Er zählte stumm. Sechs Stück, keiner fehlte. Beruhigt ließ er sich zurückfallen und steckte sich ein Lakritzbonbon in den Mund.
Etwas Hartes drückte an seinen Oberschenkel. Es war die Schachtel, die er noch immer in der Hosentasche trug. Vorsichtig zog er sie heraus, warf sie in die Luft, fing sie auf und warf erneut. Werfen – fangen, kauen – schauen, er zerbiss das Bonbon.
Die Stimmen meldeten sich zurück, sie drängten ihn. An dem Band war Platz, und er hatte noch so viele Haken. Er ließ die Schachtel wieder in der Tasche verschwinden und stand auf.
Hinter dem Stall hatte er das Auto geparkt. Er benutzte es nur, wenn er eine längere Strecke zurücklegen musste. Mit Helene zum Beispiel, die er zweimal in der Woche zum Supermarkt in der Stadt begleitete. Im Dorf selbst gab es keinen Laden, in dem sie einkaufen konnten.
Der alte Regulator in der Stube schlug viermal dunkel und siebenmal hell. Neunzehn Uhr. Knubbel trat aufs Gaspedal.
Helene war in der Küche damit beschäftigt, alles für den nächsten Tag herzurichten. Sie hörte den Motor des Wagens hinter dem Stall und rannte zur Tür. Zu spät, Knubbel war schon weg. Sie sah noch die Rücklichter und winkte hektisch. Vielleicht bemerkte Knubbel sie noch, wenn er in den Rückspiegel schaute. Doch vergebens, das Auto verschwand hinter der nächsten Kurve.
Müde ging Helene ins Haus zurück. Wer weiß, wohin Knubbel wollte. Vielleicht holte er Futter für die Tiere, das Spezielle, von dem sie ein besonders weiches Fell bekamen. Sie meinte sich daran zu erinnern, dass Knubbel etwas in der Art erwähnt hatte. Die Zweifel konnte sie damit jedoch nicht zum Schweigen bringen.
Sie presste die Handballen auf die Augen, bis sie rote Ringe sah. Sie ging zum Waschbecken und füllte ein Glas. Das Wasser kam von einem Brunnen oberhalb des Gehöfts. Sauberes, klares
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