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Lallbacken

Lallbacken

Titel: Lallbacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Venske
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ist nicht leicht für einen Arbeitsminister. Von Müntefering stammt der Satz, die Regierung sei im »Tal des Alltags« angekommen. Wo war sie vorher?
    Man weiß, dass fast hundert Prozent aller Arbeitslosen sich mit Absicht in ihre komfortable Lage gebracht haben: Ohne ihre Firmenleitung zu informieren, haben sie jahrelang Produkte hergestellt, die unverkäuflich waren. Indem sie als Arbeitnehmer einfach alle Anordnungen der Werksleitung befolgten, trieben sie ihre Firma in die roten Zahlen und ihre Manager in schwere Depressionen. Aufsichtsräte und Vorstandsmitglieder sahen sich gezwungen, ihre Versagensängste durch Hausbesuche bei brasilianischen Prostituierten zu kompensieren. Warum taten die Arbeitnehmer ihren Vorgesetzten das an? Rache für jahrelange Ausbeutung, ist doch klar. Die Leute haben mutwillig einen Zustand der Arbeitslosigkeit herbeigeführt, damit sie anschließend richtig schmarotzen konnten.
    Franz Müntefering hielt den Begriff der »Unterschicht« für »Soziologendeutsch« und erklärte, es gebe in Deutschland keine »Unterschicht«. Hätte Müntefering die Armutsberichte der Bundesregierung gelesen, für die er Mitverantwortung trug, hätte er erfahren, dass die deutsche Gesellschaft durch eine eindeutige Teilung in Klassen und Schichten gekennzeichnet war. Ihm hätte auffallen können, dass ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Anfang der 1970er Jahre rund dreißigmal so viel wie ein durchschnittlicher Angestellter kassierte, 35 Jahre später aber mindestens das Neunzigfache. Franz Müntefering zog es vor, so zu tun, als wisse er nicht, was er in den letzten Jahren selbst mit angerichtet hatte. Aber bitte – wenn es keine Unterschicht gab, dann gab es auch keine Oberschicht, und wenn es keine Oberschicht gab, dann gab es auch Franz Müntefering nicht, und dafür konnte man dankbar sein.
    Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder wollte das Wort »Unterschicht« vermeiden und stattdessen lieber von »Menschen mit Integrationsproblemen« sprechen – ein schöner Beleg für die intellektuelle Verelendung in den Führungsetagen. Da konnte man auch statt von »Politikern« von »Menschen mit eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten« sprechen. Geistig träge und emotional verkümmert, verklappten diese Leute mit ihrem abgelatschten Wachstumsvokabular den alten Sozialstaat, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wie es denn wohl weitergehen sollte. Was also konnte helfen?
    Hunde konnten. Nach Erkenntnissen eines Bonner Psychologen konnten Hunde der Unterschicht helfen. Das Leben mit Vierbeinern verringerte bei erwerbslosen Zweibeinern die psychosomatischen Risikofaktoren, die Tiere unterstützten die Betroffenen dabei, Tagesstrukturen und Sozialkontakte aufrechtzuerhalten. Bei Unterschichtlern ohne Hund beobachtete der Psychologe den Verlust von Ordnung und Zeichen äußerer Verwahrlosung. Es lag nahe, dass die – zumeist selbst arbeitslosen – Tiere Vorbildcharakter für Jobsucher haben könnten: Hunde waren reinlich, liefen lieber anstatt Bus zu fahren, sie hatten Interesse an Fortbildungskursen: Sie besuchten gerne den Hundeübungsplatz, und sie tranken keinen Alkohol. Vor allem aber hatten sie Freude am Gehorsam. Dadurch stärkten Hunde das Selbstbewusstsein von Unterschichtlern, und wenn die ihren Hund nach einem Arbeitsminister nannten, konnten sie endlich auch mal Befehle erteilen: Münte – sitz! Clement – sitz! Frau Schmidt – sitz! Frau von der Leyen – würden Sie bitte platzen!
    Dann der Aufbruch: Bundeskanzler Schröder präsentierte seine Agenda 2010. Darin wurde die These vertreten, verkrustete Sozialstrukturen müssten aufgebrochen werden, um Wettbewerb und Wachstumskräfte zu stärken, um Innovationen zu fördern und zukünftige Generationen zu entlasten.
    Das bedeutete: Wer den Sozialstaat erhalten wollte, musste ihn erdrosseln. Wer Arbeitsplätze schaffen wollte, musste die Entlassung der Beschäftigten erleichtern. Wer nicht durch Freudenschreie bewies, dass er gern für 3,50 Euro pro Stunde einen Schweinejob verrichtete, hatte nicht die richtige Einstellung zur Arbeit. Wer dagegen war, dass ein Sozialarbeiter prozentual mehr Steuern zahlte als ein Konzern, hatte kein Augenmaß. Und wer nicht bereit war, für einen Arbeitsplatz jeden Konkurrenten und seine Nachbarn totzuschlagen, war nicht motiviert.
    Da lag der Verdacht nahe: Diese sozialdemokratische Reformpolitik war nichts anderes als die Rache der 68er-Generation; die 68er rächten sich an der

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