Lallbacken
sogar in Kraft getreten war, zeterten entweder Krankenkassen, Sozialverbände und Opposition, diese Gesundheitsreform sei eine Verhöhnung und absoluter Murks, oder die Pharmaindustrie beklagte den faulen Kompromiss, der eine optimale Versorgung der Bevölkerung unmöglich mache, weil er die Firmen zwinge, die Forschung einzustellen und die Produktion ins Ausland zu verlagern. Dieses Gemaule war zutiefst ungerecht und auch ganz unnötig, denn niemand konnte die neuen Regularien beurteilen, weil das System komplett intransparent war, und außerdem war die nächste Gesundheitsreform bereits in Vorbereitung.
Das war aber kein Grund zur Beunruhigung, denn eines blieb von Reform zu Reform gleich: Immer durften die am wenigsten Verdienenden durch Zusatzbeiträge prozentual am meisten beitragen. Die viel verdienten, behielten ihre Privilegien und durften im Wartezimmer sitzen. Privatpatienten konnten gegen Vorkasse eine Narkose erhalten, dafür stand eine koreanische Praktikantin mit einem in zoologischen Gärten getesteten Blasrohr parat, Kassenpatienten waren gehalten, sich beim Hausmeister einen Beißring und eine Flasche »Kleiner Feigling« zu kaufen. Niemand musste eine Beitragsstabilität befürchten: Mehrkosten in der Gesundheitsversorgung wurden und werden stets über Zusatzbeiträge auf die gesetzlich Versicherten abgewälzt.
Die kranken, hinfälligen und siechen Deutschen teilen sich siebzehn Ortskrankenkassen, 270 Betriebskrankenkassen, 24 Innungskrankenkassen, sieben Ersatzkassen für Angestellte, sechs Ersatzkassen für Arbeiter, elf landwirtschaftliche Versicherungen, eine Bundesknappschaft und eine Seekrankenkasse. Machte zusammen 337 Krankenkassen für etwa 80 Millionen Menschen.
Ministerin Ulla Schmidt, die ewig verschnupfte Aachener Printe, die schon seit Jahren die längst fällige Polypenoperation aus Sparsamkeitsgründen vor sich herschob, machte nicht nur vor, wie prima man auch über einen längeren Zeitraum hinweg mit verstopfter Nase leben konnte, weswegen ihr gesundheitliches Gesamtkonzept so überzeugend war, sondern sie äußerte auch die Ansicht, fünfzig Krankenkassen würden reichen. Das war typisch: kein Mut zu wirklichen Reformen. Sinnvoll wäre gewesen: entweder eine Krankenkasse für alle, oder aber achtzig Millionen Krankenkassen – für jeden eine. Die Parteien wollten an diesem System auch nichts Grundsätzliches ändern – sie brauchten die Pöstchen in den Kassen und Versicherungen, das waren tolle Jobs für ihre Leute aus den Kreis- und Bezirksverbänden.
Das Ergebnis war: Patienten mussten sich damit vertraut machen, was »arztgruppenspezifische Regelleistungsvolumina« waren, wie die gesetzlich vorgegebene »Abstaffelung« von Leistungen aussah, was mit einem »Risikostrukturausgleich« gemeint war und was man unter einer »modifizierten Kopfpauschale« zu verstehen hatte. Da freute man sich, wenn man in einer Zeitung die simple Meldung lesen durfte, dass Wissenschaftler herausgefunden hatten: Wenn junge Männer in der Woche fünfmal onanieren, wird das Prostatakrebsrisiko um dreißig Prozent gemindert. Man konnte also sagen: Wichsen entlastet die AOK.
Es empfahl sich auch zu wissen, was der »Gesundheitsfonds« war. In diesen flossen Steuereinnahmen und Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wer krank werden wollte, stellte einfach einen formlosen Antrag in vierfacher Ausfertigung, dann erhielt man ein einmaliges Begrüßungsgeld in Höhe einer Praxisgebühr abzüglich der Kosten für die Vorsorgeuntersuchung, eine Vitamin-C-Brausetablette, ein Päckchen Nikotinpflaster und ein Überweisungsformular für die Praxisgebühr des nächsten Quartals. Dazu kam ein Jahresabo der Apotheken Rundschau oder ein Radiowecker, der aber mit Zuzahlung. Zu den Positiva aus dem Gesundheitsfonds gehörte auch: Kontaktgestörte Menschen konnten Haustiere auf Krankenschein beziehen. Das war ja schon bei Ludwig XIV. so, dass alleinstehenden Damen von der Gesellschaft ein Schoßhündchen, der sogenannte Punzenschlecker, zugestanden wurde. Neu war nun die Regelung: Wenn diese Haustiere krank wurden, waren sie über den Krankenschein ihres Besitzers mitversichert. Das hieß, wenn zum Beispiel die Zierfische im Aquarium krank wurden, Brechdurchfall oder so was, dann kriegten sie Bäder verordnet, in schweren Fällen auch in staatlich anerkannten Heilbädern.
Wenn man nun gar kein gesundheitspolitisches Thema mehr zu besprechen hatte, konnte man immer noch die sogenannte Scherentheorie
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