Lallbacken
diskutieren: Woran lag es, dass das Billige immer billiger und das Teure immer teurer wurde? Auch das Gesundheitssystem wurde immer teurer, alle Beteiligten verbuchten angeblich ständig neue Rekordverluste, und die Leistungen wurden immer mickriger.
Es stellte sich heraus: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt konnte alles, was einer ihrer Amtsvorgänger, Horst Seehofer, schon viel besser nicht konnte. Deswegen haben die beiden sich zusammengetan. Und dabei kam, wie Herr Seehofer sagte, »das größte Reformwerk der jüngeren deutschen Sozialgeschichte« heraus. Hätte Herr Seehofer nicht gleichzeitig jene Zusammenarbeit mit Frau Schmidt als »eine der schönsten Nächte in seinem Leben« bezeichnet, wäre das Vertrauen des Volkes in seine Urteilskraft allerdings erheblich größer gewesen.
Es wurde wirklich alles getan, um die Leiden der Patienten zu lindern. Aber man musste die Gesundheit im Land selbstverständlich auch so profitabel wie möglich gestalten. Also wurden Krankenhäuser verkauft, privatisiert, in Aktiengesellschaften umgewandelt. Für die Gesundheit sollten am besten jene sorgen, die an der Krankheit verdienten. Selbstverständlich war für die Aktionäre die Versorgung der Patienten nicht ganz so wichtig wie die Aussicht auf eine möglichst hohe Dividende, aber der Markt würde es schon richten. Da hatten die Menschen großes Vertrauen. Derselbe Markt beseitigte ja auch den Hunger in der Welt, indem er an der Börse mit Lebensmitteln spekulierte und diese notfalls vernichtete, um die Preise hochzutreiben.
Hauptsache, es gab keinen Rückfall in den Sozialstaat, wie er vor der letzten Gesundheitsreform bestand. Da war es ja so gewesen, dass vor allem osteuropäische Touristen Busreisen nach Deutschland unternahmen, um noch ein Mal, ein letztes Mal, gut genährte, gesunde Deutsche mit vollständigen Gebissen anzuschauen, bevor sie mit riesigen Zahnlücken und eitrigen Füßen um brennende Mülltonnen herumstanden und vom Diebstahl polnischer Luxusautos lebten.
Das war das eigentliche Signal für die deutsche Politik, endlich eine neue Gesundheitsreform anzuschieben, denn es musste ja wirklich nicht sein, dass man arme Leute an ihrem schadhaften Gebiss erkennen konnte. Da wurde also Abhilfe geschaffen, und nach der Gesundheitsreform waren in Deutschland drei Zahnsorten im Angebot: türkische, bevorzugt vor allem von Nachrichtensprecherinnen und Sportreportern, ungarische für Leute, die gern drei Reihen im Mund hatten, und chinesische, vermutlich aus den Köpfen hingerichteter Systemgegner.
Um das deutsche Gesundheitswesen war es wirklich nicht schlecht bestellt: Die Arzneimittelhersteller kassierten für Scheininnovationen, die Apotheker dealten mit ihren Lieferanten, die Ärzte rechneten für die tote Oma noch schnell eine Gebärmutteruntersuchung ab, und die Privatpatienten lächelten, weil sie auch die Schnauze voll hatten – mit chinesischem Porzellan aus der Qing-Dynastie.
Für die Sicherstellung der Volksgesundheit befahl die Bundesregierung eine Art Eintrittsgeld für den Arztbesuch, die sogenannte Praxisgebühr. Diese Maßnahme war überfällig – jede Praxis verfügte schließlich über ein individuelles und anspruchsvolles Zeitschriftenangebot, das täglich aktualisiert wurde. Außerdem ging diese Gebühr komplett an die Krankenkassen.
Allen älteren Menschen, die sich Sorge machten um ihre Versorgung, unterbreitete die Gesundheitsministerin ein Topangebot der Allianz, und zwar eine Rundum-Krankenversicherung inklusive Klinikaufenthalt erster Klasse im Einbettzimmer, Organtransplantationskosten, Duzen mit dem Chefarzt und 300 Euro Tagegeld auch während der Reha plus Prothesenanfertigung und Lieferung frei Haus – und das alles zusammen für lumpige achtzig Euro monatlich bei nur hundert Prozent Selbstbeteiligung.
Als Leitgedanke stand über jeder Gesundheitsreform: Wer drei Wochen auf seinen Arzttermin warten musste, blieb länger gesund. Zielführend waren Kranke, die fünfzig Jahre und länger auf einen Arzttermin warten mussten und schließlich starben, ohne zu wissen, woran.
Man musste sich eben die Krankheiten genau einteilen, für die Narkose genügend ansparen, und wenn man gesund blieb, konnte man sich eines Tages auch mal eine kleine Operation leisten. In besonders schweren, wenn nicht gar schmerzhaften Fällen, hatten die Patienten die Möglichkeit, sich als Eurofighter zu verkleiden und ins nächste Bundeswehrhospital zu begeben – für Eurofighter zahlte die Bundeswehr
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