Lallbacken
Vorsorge, Wartung und ganzheitliche Pflege.
Das führte dazu, dass die Arztbesuche um 25 Prozent zurückgingen, die Impfrate sank um dreißig Prozent. Wer viermal im Jahr nicht zum Arzt ging, sparte vierzig Euro Praxisgebühr und eine große Menge Rezeptgebühren. Das war wirklich eine große soziale Errungenschaft. Gleichzeitig entwickelte sich ein allgemeiner Konsens, jeder sollte sich nur noch die Krankheit leisten, die er auch bezahlen konnte, und wer an hellblauem Stuhl, Augenschimmel oder Ohrenverpelzung litt, bei wem gar Maulwürfe im Schamhaar nisteten, der sollte dafür nicht die Gesellschaft zur Kasse bitten.
Zu verdanken war das vor allem einer von den bürgerlichen Parteien gesponserten Fernsehsendung mit dem Titel »Vorstellung gesundheitspolitischer Konzepte«. Dort gab es interessante Tipps, zum Beispiel, man solle eventuelle Sterbepläne nicht ausgerechnet auf den Quartalswechsel legen, es sei denn, es handelte sich um einen Arbeitsunfall, für den generell keine Praxisgebühr fällig wurde, außer die Unfallversicherung erkannte ihn nicht an. Dann konnte man sich wieder an den Gesundheitsfonds wenden.
Trotz der blühenden Volksgesundheit waren die Ärzte im großen und ganzen recht zufrieden. Zwar demonstrierten sie gelegentlich gegen ihren finanziellen Untergang, aber wer Arzt war, musste sich eben auch mal mit dem Risiko einer selbständigen Existenz auseinandersetzen. Und es war ja auch noch keiner verhungert. Allerdings wurden Ärzte relativ häufig geohrfeigt, gebissen und mit Infusionsständern oder Aschenbechern verdroschen. Da musste natürlich etwas getan werden. Im zuständigen Gesundheitsausschuss gingen die Überlegungen dahin, den Ärzten zu empfehlen, jede Behandlung aufsässiger und dadurch besonders unrentabler Patienten einzustellen und ihnen eine Selbstabschiebung ins Ausland zu empfehlen.
Hin und wieder wurde auch der eine oder andere Arzt der Bestechung bezichtigt. Andreas Köhler, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, empörte sich darüber: »Das ist der Mutterkuchen des Sommerlochs.« Oha. Wenn die Bestechung der Mutterkuchen war, dann waren die Patienten wohl die Embryos, und die Pharmaindustrie prügelte sich um die Nachgeburt. Aber wusste man schon, wer die Mutter war? Und hatte die ein Sommerloch?
Nicht nur Patienten und Ärzten ging es gut, sondern auch den Apotheken.
Die Gewinnspannen bewegten sich zwischen dreißig und 68 Prozent. Je niedriger der Preis, desto höher die Gewinnspanne. Bei zwanzig Aspirin waren es 68 Prozent. Da wurde sogar der Wunsch geäußert, man solle doch die Apotheken mit den Tankstellen zusammenlegen.
Doch, das Gesundheitswesen schlug sich prächtig im Spannungsfeld des Christentums: einerseits Fürsorge und Barmherzigkeit mit den Siechen und Verseuchten, andererseits das berechtigte Streben nach Marktanteilen, Patenten und Dividenden. Die pharmazeutische Industrie war jederzeit bereit, im Rahmen von Wachstum und Rendite die Lieferbedingungen für den Reparaturbetrieb Mensch zu humanisieren.
Norbert Blüm, der Nobby – jener Politiker, der schon zu seinen aktiven Zeiten auftrat wie Pumuckl im Red-Bull-Rausch –, hatte dank phantastischer Medikamente mit Ende sechzig auch seine Bestimmung gefunden: Er trat als Nachwuchsschauspieler in einem Werbespot auf: Ein Rezept lesend, betraten 165 Zentimeter Blüm eine Apotheke, liefen auf einen giraffenhalslangen Menschen auf, schauten einen endlosen Rücken hoch und sagten entrüstet: »Viele Arzneimittel haben gigantische Preise. Muss man da als kleiner Mann immer den kürzeren ziehen?« Dann krabbelte Blüm, flink wie sein Geschäftssinn, dem Langen durch die Beine, verharrte im Schritt, schaute in die Kamera – und beantwortete seine Frage selbst: »Nein! Denn, wenn ich was hab’, hab’ ich Hexal.« Jedes Mal, wenn man diesen Fernsehspot sah, verstand man ein wenig besser, warum sogar Helmut Kohl nicht mehr mit Blüm redete.
Besonders einfallsreich und menschlich wurde auch der Kampf gegen das Rauchen geführt: So gab es für junge Menschen verbilligte Ferienreisen unter dem Motto »Rauchen auf dem Bauernhof«. Doch bei aller Humanität – jeder wusste: Nichts bedrohte die westliche Industriegesellschaft gefühlsmäßig heftiger als das Rauchen. »Die Zigaretten, wie sie heute angeboten werden, sind gemeingefährliche Mordinstrumente und müssen sofort vom Markt«, forderte der weithin unbekannte CDU-Politiker Karl-Heinz Florenz, Vorsitzender des Ausschusses für Volksgesundheit im
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