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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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an.
    Das Schweigen zwang mich, fortzufahren. »Granna hat mir gesagt, was du bist.«
    Er starrte mich weiterhin an. »Was – bin – ich?«, fragte er schließlich mit gepresster Stimme.
    »Einer von den …« Beinahe hätte ich
Feen
gesagt, doch Grannas Warnung fiel mir rechtzeitig wieder ein. »Einer von
ihnen
. Sie hat dich schon einmal gesehen. Deshalb hasst siedich so. Sie macht etwas, das dich von mir fernhalten soll.« Wieder sprudelten die Worte unwillkürlich aus mir heraus. Anscheinend konnte ich den Mund nicht halten.
    Lukes Körper war vollkommen steif, und seine Stimme klang angespannt. »Du glaubst, ich sei einer von
ihnen?
«
    »Ich
weiß
es nicht. Und es ist mir auch egal. Das versuche ich dir ja gerade zu sagen. Es ist mir egal, was du bist.« Ich trat zurück und biss mir auf die Unterlippe. Damit hatte ich jedes bisschen Gefühl, das ich als eine der Monaghan-Frauen hübsch unter Verschluss halten sollte, aus seiner Schachtel gekippt.
    Luke ballte die Hände zu Fäusten. »Ich bin keiner von
denen

    »Was bist du dann?«
    »Das kann ich dir nicht sagen, und auch sonst niemandem. Eher könnte ich fliegen lernen.«
    In diesem Moment hatte ich eine Eingebung. »Kannst du doch«, sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Es
geht
nicht.«
    »Du brauchst nichts zu sagen. Lass mich versuchen, deine Gedanken zu lesen.« Das war so eine einfache und doch geniale Idee. Warum war ich nicht schon vorher darauf gekommen? Vor meinem geistigen Auge sah ich mein Gesicht aus James’ Gedanken hervorschimmern. Wenn ich das sehen konnte, indem ich ihm nur einen Moment lang in die Augen schaute, wie viel mehr würde ich dann erkennen, wenn ich mir richtig Mühe gab?
    Ich sah ihm an, wie sehr ihm das widerstrebte. Wenn er wirklich das war, was Granna behauptete, würde er sich niemals dazu bereit erklären. Vielleicht war er es auch nicht, würde sich aber trotzdem weigern. Ich wusste selbst nicht recht, ob ich jemanden in meinen Gedanken lesen lassen würde, dabei hatte ich nicht einmal etwas zu verbergen.
    Luke blickte wieder in den Nebel hinaus, dann trat er dicht vor mich. »Das kannst du?«, fragte er leise.
    »Ich glaube schon. Vorhin habe ich es gewissermaßen schon getan.«
    Er sog die Unterlippe zwischen die Zähne. So sah er hinreißend aus, wie ein unschlüssiger kleiner Junge. »Ich weiß nicht. Das ist so …«
    »Privat?«
    »Ja.« Er holte tief Luft. »Okay. Okay, wir machen es. Aber nicht hier. Irgendwo, wo wir sicher sind.«
    Die Stimmung war umgeschlagen. Auf einmal standen wir wieder auf derselben Seite. Ich schaute in die bläulichen Schwaden und fragte mich, vor wem oder was wir uns in Sicherheit bringen mussten. Und was als sicherer Ort gelten konnte. Er hatte doch hoffentlich nicht vor, wieder in die Stadt zu fahren. Eine Kirche vielleicht? Die nächste Kirche lag zehn Autominuten entfernt.
    »In der Nähe gibt es einen Friedhof, stimmt’s?«, unterbrach Luke meine Gedanken. »Ich glaube, ich habe einen gesehen.«
    Ich nickte. »Meinst du den alten Friedhof mit dem großen Grabmal hinter unserem Haus?«
    »Der hat einen Zaun aus Eisen, richtig?«
    Ich runzelte die Stirn. »Ja, aber kein Eisentor.«
    »Das macht nichts. Unter einem eisernen Torbogen können
sie
nicht durchgehen, und so einen hat er doch, wenn ich mich nicht irre.« Er presste sich die Faust an die Stirn. »O Gott, ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich tue. Du hast ja keine Ahnung, wie dumm das von mir ist.« Er streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, und er drückte fest meine Hand. »Dumm, dumm.«
    Zusammen durchquerten wir den Garten, zwischen den silbrigen Bäumen hindurch und den alten Trampelpfad entlang,der zum Friedhof führte. Um uns herum schimmerte die Luft, wirbelte und ballte sich, berührte uns mit unsichtbaren, kalten Händen, hing in den Bäumen wie hauchzarte Gaze und schillerte auf den Blättern wie kostbare Edelsteine. Kein menschliches Wesen war hier, nur Luke und ich, umgeben von dieser beinahe greifbaren Magie.
    Ich fühlte mich beobachtet.
    Luke hielt meine Hand die ganze Zeit über fest, doch seine Wachsamkeit ließ keine Sekunde lang nach. Alles an seiner Haltung drückte konzentrierte Kraft aus, zum Sprung gespannt. Nachdem ich beobachtet hatte, was mit dieser Raubkatze geschehen war, konnte ich mir kaum einen Feind vorstellen, der in der Lage wäre, ihn zu überwältigen. Es sei denn, er war selbst der Feind.
    Der eiserne Torbogen des alten Friedhofs tauchte plötzlich zwischen den immergrünen

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