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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Bäumen auf. Eilig schob Luke mich darunter hindurch und sprang mit einem Satz hinterher, als wäre er nur knapp schnappenden Zähnen entkommen. Ich schaute durch den Torbogen zurück und blinzelte, als ein kaum sichtbarer Schatten dahinter vorbeihuschte und im Nebel verschwand. Ich bekam eine Gänsehaut. Einen Moment lang überlegte ich, Luke zu fragen, was das gewesen sein könnte, aber ich wollte es eigentlich lieber nicht wissen. Es war einfacher, tapfer zu sein, wenn man die Gefahr nicht kannte.
    »Da hinein?«, schlug ich kaum hörbar vor. Luke folgte meinem Blick zu dem gewaltigen Grabmal aus Marmor in der Mitte des Friedhofs und nickte. Wir schlängelten uns zwischen Grabsteinen und hohen grauen Platanen hindurch. Die Toten lauschten unseren Füßen, die über ihre Gräber liefen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal auf einem Friedhof sicherer fühlen würde als vor seinen Toren.
    In kühlem Weiß ragte das Grabmal im Nebel vor uns auf.Es ähnelte einer Grabkammer mit der Statue eines Mannes darin, der ein Kind im Arm hielt. Auch die beiden Gestalten bestanden aus eisig weißem Marmor, überlebensgroß, festgefroren in einem dunkelblauen Meer. Ohne zu zögern trat ich in das Monument, in dessen Schatten ich mich sicherer fühlte, dicht gefolgt von Luke.
    Ich setzte mich in die hinterste Ecke und lehnte mich mit dem Rücken gegen den kalten Marmor. Dann sah ich zu, wie Luke ein paar Nägel aus der Hosentasche zog und sie sorgfältig in einer Reihe an der offenen Seite des Monuments auslegte, alle leicht schräg in dieselbe Richtung geneigt, ehe er sich in die Ecke mir gegenüber setzte.
    »Wozu das denn?«, fragte ich.
    »In dieser Richtung liegt das Tor. Die Nägel werden sich bewegen, wenn etwas versucht, mit Gewalt durchzukommen. Wenn
sie
durch eine so schmale Lücke schlüpfen, drückt ihre … Essenz … die Spitzen zur Seite.«
    Ich starrte die Nägel an, die reglos auf dem Marmor lagen. »Hast du nicht gesagt,
sie
könnten nicht unter dem Torbogen durchgehen?«
    Luke war bleich. »Die meisten von ihnen.«
    Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. »Willst du das immer noch durchziehen?«
    Er nickte abrupt. »Was muss ich tun?«
    Ich biss mir auf die Unterlippe. Plötzlich kamen mir Zweifel. Was, wenn ich mich geirrt hatte und im Sticky Pig gar nichts passiert war? Vielleicht konnte ich gar keine Gedanken lesen. Womöglich war es wirklich nur Einbildung gewesen. Am Ende hatten wir einen mitternächtlichen Ausflug gemacht, verfolgt von
irgendetwas
, um dann in einem eiskalten Marmordenkmal zu sitzen und einander anzustarren.
    »Dee«, sagte Luke leise. »Was muss ich tun?«
    Ich blickte auf. Seine hellen Augen glitzerten in der kühlen Dunkelheit. »Lass mich in deine Augen schauen.«
    Er seufzte, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme um die Knie. Seine Stimme war kläglich. »Denk bitte nicht schlecht von mir.«
    Er richtete den Blick auf mich. Einen Moment lang konnte ich mich nicht konzentrieren, weil es so wunderschön war, ihm unverhohlen ins Gesicht starren zu können, in Ruhe die gerade, schmale Linie seiner Nase zu betrachten, den unsicheren Zug um seinen Mund und die hellen Brauen, die über seinen Augen mit den eisig blauen Sprenkeln zusammengezogen waren.
    Das Flattern eines weißen Vogels über seinem Kopf ließ mich vor Schreck zusammenfahren. Sekunden später hatte sich der Vogel wie eine Rauchfahne in nichts aufgelöst.
    Luke war sofort aufgesprungen. »Was ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich habe einen Vogel gesehen und bin erschrocken.«
    Er grinste, doch es wirkte ein wenig nervös. »Ich habe an einen Vogel gedacht.«
    Wir setzten uns wieder hin, und ich begann von vorn. »Versuchen wir es mit einem anderen Gedanken.«
    Obwohl ich inzwischen wusste, dass etwas passieren würde, zuckte ich zusammen, als das Kleeblatt zwischen uns zu Boden fiel.
    »Klee?«, fragte ich.
    Luke nickte.
    Aber ich wollte mehr. Keine albernen Ratespielchen. Ich wollte alles, die volle Ladung. »Denk an gar nichts.«
    Er wirkte nervös. »Die Natur verabscheut die Leere«, sagte er, aber dann nickte er, um mir zu zeigen, dass er bereit war.
    Diesmal konnte ich
spüren
, wie es sich anfühlte, in seinenGeist zu blicken. Der Punkt auf der Stirn zwischen den Augen fühlte sich warm an, als ich mich konzentrierte, und die schimmernde Bildfläche breitete sich zwischen uns aus. Ich fühlte eine Art Druck, ein Zögern. Luke ließ mich ein, aber nur widerstrebend.
    Ein leiser,

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