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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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hauchiger Ton erklang, doch diesmal schrak ich nicht zusammen. Denn ich erkannte deutlich, dass er aus dem Schimmer kam, der Lukes Geist abbildete. Die Flöte spielte weiter und schlängelte sich in einem vertrauten Marsch um das Bild einer weiten, grünen Ebene herum, auf der weit verstreut mannshohe Felsbrocken standen. Das Bild wurde fortgeweht wie feiner Sand, und an seine Stelle trat eine dunkle Bar. Musiker spielten dicht gedrängt, und die aufgepeitschte Musik hämmerte in einem nicht enden wollenden Herzschlag. Schneller als zuvor verschwand auch dieses Bild und wurde durch einen Schlüsselbund ersetzt, der am Türschloss eines Autos baumelte. Ebenso rasch erschien das nächste Bild: ich an meinem ersten Highschool-Tag, wie ich das Schulgebäude betrat. Ein weiteres: ein junger Mann mit einer goldenen Strähne im dunklen Haar, der Luke auf die Schulter klopfte.
    Ich
spürte
, wie Luke auf seiner Seite des Monuments zitterte. Ein Bild nach dem anderen flammte vor meinen Augen auf. Luke rollte sich in einem kleinen, dunklen Raum zusammen, schlotternd vor Kälte. Ein Fiedler geigte einen Tanz, und Lukes vertraute Flöte spielte die zweite Stimme. Eine wunderschöne Frau packte Luke im Nacken, und er fiel auf die Knie. Weiße Striche flogen unter Autoreifen dahin.
    Und noch schneller ging es weiter, wie eine Diashow im Zeitraffer. Ein tückisch schönes Messer. Ein junger Mann fiel in einer nassen Straße vornüber aufs Gesicht, ein Messer ragte aus seiner Seite.
    Ein anderer, merkwürdig gekleideter Mann schnappte vergeblichnach Luft, während sein Hals zwischen Lukes Händen warm und lebendig pulsierte. Ein rasender Schmerz in Lukes Brust.
    Der schrille Schrei einer Frau brach abrupt ab, als eine Klinge ihre weiße Haut aufschlitzte. Eine Hand umklammerte drei Eisennägel so fest, dass die Handfläche blutete.
    Ein anderer junger Mann, in dessen Hals die Klinge ebenso säuberlich fuhr wie in die Kehle der Katze. Und ein blutendes Mädchen in meinem Alter hauchte mit jedem Atemzug mehr Leben aus.
    Das zornige Messer riss Fetzen aus Lukes Arm, ritzte um den goldenen Reif herum. Er lag in einer Pfütze aus Blut und Selbstzerstörung. Ein weißer Vogel flatterte in der Lache. Stieg daraus auf. Eine weitere Leiche. Und noch eine. Hände voller Blut.
    Alles, was ich sah, war rot. Rot wirbelte mir wie ein Strudel entgegen. Ich brach auf dem kalten Marmor zusammen, und meine Atemzüge waren zu langsam, zu erstickt. Die Bisswunden an meinem Arm brannten.
    »Genug.«
Lukes Stimme drang kaum hörbar an mein Ohr. Er war an der Wand zusammengesunken, leichenblass. Als er elend das blasse Gesicht abwandte, sah ich eine einzelne Träne aus Blut über seine Wange rinnen. Sie hinterließ einen roten Fleck.
    In diesem Moment wusste ich, dass ich mehr getan hatte, als nur seine Gedanken zu lesen.

Zwölf
     
     
     
     
     
    Lange Zeit lag ich reglos auf dem Marmor, während die Grabsteine die Stunden am Mond abzählten, der über sie hinwegwanderte und auf ihrer anderen Seite Vornamen erhellte, die seit Jahrzehnten niemand mehr ausgesprochen hatte. Kälte kroch vom Marmor in meine Adern und durch meinen Körper. Ich lag auf dem kalten Stein, hoffte und fürchtete zugleich, dass Luke mich hochziehen würde, während immer mehr Bilder des Todes vor meinem inneren Auge vorüberglitten. Nein. Nicht nur Tod. Mord.
    Ich wusste nicht, was ich denken sollte, also versagte mein Gehirn einfach seinen Dienst. Endlich konnte ich mich aufrichten. Ich schaute hinüber zur anderen Seite, wo Luke sich als zarter Umriss vor dem Marmor abhob, ein seltsamer, blasser Buchstabe in einem fremden Alphabet. Seine Wange ruhte an der Wand, und er starrte mit trübem Blick in die Nacht. Eine Spur aus getrocknetem Blut war von der einzelnen Träne zurückgeblieben, die über seine Wange und am Kiefer entlanggelaufenwar. Ich folgte seinem Blick hinaus zu den Grabsteinen und beobachtete, wie der immer dichter werdende Nebel zu ihren Füßen herumschlich.
    Gräber. Wie passend.
    Ich dachte daran, ihn zu fragen, ob er all diese Menschen tatsächlich umgebracht hatte. Doch dann erinnerte ich mich an seine Frage.
Mache ich dir Angst?
    Er hatte sie wirklich getötet.
    Er gehörte also nicht zu den Feen. Er war ein Mörder.
    Ich schaute wieder zu ihm hinüber. Elend und betrübt kauerte er an der Wand. Mit einem Mal kochte Zorn in meiner Kehle hoch, den ich kaum herunterschlucken konnte. Ich fragte mich, welche verzerrte Logik ihn jetzt so bekümmert dreinschauen

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