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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Und zweitens konnte man ihr für ihre selbstgemachte heiße Schokolade so ziemlich alles verzeihen.
    Sie schaute zu, wie der Dampf aus ihrem Becher wirbelnd in die Höhe stieg. Im gedämpften ockerfarbenen Licht sah Mom jung und hübsch aus. Wie ich sie kannte, hatte sie die Wände vermutlich genau deshalb in diesem Ockerton gestrichen. »Ist dein Auftritt gut gelaufen?«
    Sie versuchte es also auf die nette Tour.
    »Sehr gut. Granna und ich haben uns einen schönen Nachmittag gemacht. Sie …« Ich unterbrach mich, weil Granna mich ja gebeten hatte, Mom nicht zu sagen, dass sie vorbeikommen würde. »Mein Kleid ist bei ihr zu Hause. Ich habe ein bisschen Limonade darauf verschüttet, und sie will es waschen.«
    »Und James hat dich zum Abendessen eingeladen?«
    Ich nippte an dem Kakao. Dicke, dunkle Schokolade rann langsam meine Kehle hinab, und einen Moment lang vergaß ich, was sie mich gefragt hatte, so dass Mom die Frage wiederholen musste. Ich trank noch einen Schluck und schmeckte einen Hauch Orange heraus. »Ja, ins Sticky Pig.«
    »Es ist mir lieber, wenn du deine Zeit mit James verbringst als mit diesem Luke.«
    Ich runzelte die Stirn, blickte aber nicht auf. Es war leichter, Mom zu verärgern, wenn man sie nicht ansah. »Warum?«
    »Erstens kenne ich James. Ich kenne seine Familie. Ich weiß, dass du bei ihm gut aufgehoben bist.«
    »Bei Luke bin ich auch gut aufgehoben.« Ich dachte daran, wie er der Raubkatze lautlos den Dolch in den Unterkiefer gerammt hatte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
    »Er ist zu alt für dich. Und er geht nicht auf deine Schule.« Letzteres klang ein wenig unschlüssig – sie riet also nur.
    Ich sah ihr ins Gesicht. Genau hier lag ihre Schwäche – in ihrer Unschlüssigkeit. Ich fragte mich, wie oft sich mir in Gesprächen wie diesem schon eine solche Lücke geboten hatte, die ich hätte ausnutzen können. Sie waren mir entgangen, weil ich zu selbstzufrieden war, um richtig aufzupassen.
    »Du hast recht. Er ist nur über den Sommer hier, und er ist schon im letzten Schuljahr. Ich weiß, dass er ein bisschen zu alt für mich ist. Aber ich mache schon keine Dummheiten. Und er ist ein Gentleman. Was gibt es daran auszusetzen?«
    Mom musterte mich verwundert und wusste allem Anschein nach nicht, was sie darauf erwidern sollte. Hatte ich ihr jemals mit einem rationalen Argument widersprochen? Ein einziges Mal? Sie trank ihre Schokolade. Sie sah immer noch jung und hübsch aus, nur dass ihre Rüstung eine unübersehbare Delle abbekommen hatte.
    Ich hätte abwarten können, bis sie etwas sagte, nutzte aber meinen Vorteil, um mir den Sieg zu sichern. »Außerdem habe ich immer mein Handy dabei, du kannst mich also jederzeit erreichen. Gehe ich nicht immer dran, wenn es klingelt? Du hast mich so erzogen, dass ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Du musst mir ein bisschen vertrauen.«
    O Mann, das war gut!
Ich spülte mein Lächeln mit einem Schluck Kakao hinunter.
Das war der Hammer.
    Mom seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich möchte, dass du mir Bescheid sagst, wenn du mit ihm irgendwohin gehst.« Sie stand auf und trat an die Spüle, um ihren Becher abzuwaschen. »Was hält James eigentlich davon?«
    »Wie meinst du das?«
    Sie drehte sich mit verächtlicher Miene zu mir um. »Gebrauche deinen Verstand, Deirdre.«

Elf
     
     
     
     
     
    In meinem Traum saß Luke in seinem müden Bukephalos, die Arme auf dem Steuer verschränkt und die Stirn darangelehnt. Im düsteren Wageninneren schimmerte der Reif an seinem Arm geheimnisvoll.
    Ich konnte ein Stück von seinem Gesicht sehen, als säße ich wie ein winziger, unsichtbarer Beobachter auf dem Schalthebel. Seine Lippen bewegten sich, doch seine Stimme war kaum zu hören.
    »Ich bin Luke.«
    Die Pause vor seinen nächsten Worten dehnte sich zu Stunden, zu einem ganzen Leben. Nebel trieb vor den Scheiben vorbei, blasse, feuchte Finger, die ihre Abdrücke auf dem Glas hinterließen. »Es sind jetzt eintausenddreihundertachtund-vierzig Jahre, zwei Monate und eine Woche. Bitte vergiss mich nicht.«
    Der Nebel trug eine langsame, drohende Musik mit sich, so gefährlich wie die Verheißung des Schlafes für einen Sterbenden.Luke streckte die Hand nach dem Autoradio aus und drehte am Regler.
    Das Dröhnen aus den Lautsprechern riss mich aus dem Schlaf. Blinzelnd sah ich mich im Zimmer um und konnte nicht erkennen, wie spät es war. Dann merkte ich, dass ich im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und das Licht irgendwie

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