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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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launisch und sehr nachdenklich. »Du wirst lachen«, fügte er hinzu, »aber sie gehört zur Gothic-Szene. Dicke schwarze Schminke und all das. Nietenhalsband. Da steh ich drauf.« Aber das Mädchen, das ich vor mir sah, mit dunklem Haar, grauen Augen, ohne Make-up und in einem blauen T-Shirt mit V-Ausschnitt, war kein Goth namens Tara. Das Mädchen, das da aus James’ Geist hervorschimmerte, war ich.
    Ich zwang mich, den Blick von ihm zu lösen, und starrte auf den Boden. Das Bild verschwand. »Hört sich interessant an.«
    Okay. Vielleicht hatte ich Wahnvorstellungen. Vielleicht bildete ich mir ein, dass mein Spiegelbild rätselhafterweise auf einer Art kosmischem Bildschirm in der Luft schwebte. Aber das glaubte ich nicht. Ich vermutete eher, dass ich seine Gedanken gelesen hatte.
    O Mann.
    Das war tausendmal schwerer zu schlucken als die Feststellung, dass ich Löffel bewegen konnte, ohne sie anzufassen.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto unfassbarer erschien mir das Ganze. Ich konnte es vermeiden, Löffel zu bewegen. Aber ich konnte wohl kaum für den Rest meines Lebens niemandem mehr in die Augen schauen. Ich wollte das nicht.
    »Deirdre!« Ich blickte zu James auf. »Er hat gefragt, was du trinken möchtest.«
    Ein pickliger Kellner stand vor unserem Tisch, und ich versuchte, ihn anzusehen, ohne ihm in die Augen zu blicken.
    »Entschuldigung«, kam James mir zu Hilfe. »Meine Freundin wurde gerade vom übellaunigen Bichon Frisé meiner Mutter attackiert, ich fürchte, sie steht noch ein bisschen unter Schock. Bringen Sie ihr bitte einen süßen Eistee? Und eine Portion Pommes frites.«
    Der Kellner floh. Ich starrte auf die Tischplatte.
    »Was
hast
du denn? Du bist ja völlig weggetreten.« Er streckte den Arm über den Tisch und hob mit dem Zeigefinger mein Kinn an. »Ist es wegen der Killerkatze oder der Goth-Mieze?«
    Ich seufzte kläglich. »Ich wollte nie das Normale haben. Bis ich es nicht mehr hatte.«
    Er lächelte. »Dee, du warst noch nie normal.«
    Seine Antwort war zu einfach, wie ein Spruch von einem Motivationsposter. »Aber auch noch nie
so
unnormal. Jetzt bin ich nicht nur ein Freak, sondern auch noch ein Freak-Magnet.«
    »Dee, Kleeblätter bewegen zu können und von bösen Feen gejagt zu werden, ändert doch nichts daran, wer du bist. Das ist so, als würdest du ein neues Instrument spielen lernen. Das ist nur etwas, was du
tust
. Und die bösen Feen – na ja, die sind auch nicht viel anders als durchgeknallte Groupies, die sich an deine Fersen heften. Im Grunde bist du immer noch du, ganz egal, wie groß die Löffel sind, die du irgendwann bewegen kannst, oder wie wild die Fans an deinem Tour-Bus rütteln,wenn du wieder wegfährst. Nur
du
kannst dich verändern, egal, was um dich herum passiert.«
    Ich sah ihn stirnrunzelnd an, sorgsam darauf bedacht, ihm nicht zu tief in die Augen zu schauen. »Seit wann bist du denn so klug?«
    Er tippte sich an die Stirn. »Gehirntransplantation. Ich habe das Hirn von einem Wal bekommen. Jetzt bestehe ich alle Prüfungen mit links, nur diese ständige Lust auf Krill macht mir noch zu schaffen.« Er zuckte mit den Schultern. »Und der Wal, der mein Gehirn abbekommen hat, tut mir echt leid. Vermutlich schwimmt er gerade um Florida herum und versucht, einen Blick auf Mädchen im Bikini zu erhaschen.«
    Ich lachte. Es war unmöglich, sich mit James über irgendetwas Ernstes zu unterhalten, aber es war ebenso unmöglich, ihm böse zu sein. Wahrscheinlich nahm ich ihn einfach zu selbstverständlich hin. »Warum glaubst du mir eigentlich?«
    »Warum sollte ich nicht?«
    »Weil es verrückt ist.«
    James’ Augen verdunkelten sich, und eine Sekunde lang glaubte ich, mehr in ihm zu sehen als den guten, alten, vertrauten James. »Vielleicht bin ich ja auch verrückt.«
     
    Als James mich zu Hause absetzte, war es schon fast dunkel. Granna war noch nicht da gewesen, oder wenn doch, erwähnte Mom nichts davon. Ich fragte mich, wie lange es dauern mochte, diese grüne Pampe herzustellen. Und wo sie das gelernt hatte.
    Ich entwischte Mom, ehe sie mich ausquetschen konnte, und zog ein langärmeliges T-Shirt an, um die Bisswunden zu verstecken. Als ich in die dämmrige Küche zurückkehrte, blickte Mom auf. Sie saß auf einem der Barhocker und schob mir über den Frühstückstresen einen Becher heiße Schokolade zu. EinFriedensangebot. Ich nahm es ohne Zögern an. Erstens hatte ich schon vergessen, in welcher Stimmung wir uns vor der Kirche getrennt hatten.

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