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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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anzusehen.
    Die Frage war so weit von dem entfernt, was ich erwartet hatte, dass ein ungläubiger Unterton in meiner Stimme lag. »Ja, um eins.«
    »Dein Vater kann dich hinfahren, aber James muss dich abholen, und wenn er nicht kann, musst du anrufen und für heute absagen. Ich kann dich nicht holen.« Sie trank aus und stellte ihren Kaffeebecher ins Spülbecken. Dad sah irgendwie geknickt aus. Ich hätte darauf gewettet, dass sie sich heftig gestritten hatten, bevor ich heruntergekommen war.
    »Delia und ich müssen ins Krankenhaus«, fuhr Mom fort.
    »Ins Krankenhaus?«, wiederholte ich, während leises Entsetzen in mir aufkeimte.
    Delia zog einen riesigen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und nahm meine Mutter beim Arm. »Granna ist hinge-fallen oder so. Die Rettungssanitäter waren nicht ganz sicher. Vermutlich ist es nichts Ernstes.«
    »Hingefallen?«, wiederholte ich. So etwas passierte nur den Großmüttern anderer Leute. Granna gehörte nicht zur gebrechlichen, hinfälligen Sorte. Sie gehörte zu der Sorte, die Möbel herumschleppte und bemalte. Die Kräuter zu einer grünen Pampe zermatschte, um damit Feen zu vertreiben. Aus irgendeinem Grund musste ich an Eleanors gruseliges Lächeln denken, kurz bevor sie verschwunden war.
    »Oder so«, erklärte Delia noch lauter als sonst, sofern das überhaupt möglich war. »Wir wollen uns nur vergewissern,dass es ihr gutgeht. Bestimmt wird sie bald entlassen. Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
    Mom funkelte Delia an, und ich fragte mich, worum es bei
dem
Streit gegangen sein mochte.
    Delia schien von den boshaften Blicken ihrer Schwester nicht im Mindesten beeindruckt und musterte mich hoheitsvoll. »Du hast sie doch gestern gesehen, Deirdre. Hast du irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«
    Gestern war ich vermutlich zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, als dass ich irgendetwas bemerkt hätte. Ungewöhnlich war bei Granna wohl nur eines gewesen, und das war ich selbst. Ich schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts aufgefallen.«
    Mom warf Delia einen triumphierenden Blick zu. »Fahren wir.«
    Die beiden eilten zur Tür hinaus, und Dad und ich blieben allein zurück. Er war still, wie üblich, denn alle Worte, die er hätte sagen können, hatten Delia und Mom schon aufgebraucht. Schließlich rieb er sich das Kinn und sah mich an. »Du triffst dich mit diesem Flötenspieler vom Wettbewerb?«
    Mit Mom zu reden, war schwierig: Man musste Regeln einhalten und ihre Spielchen mitmachen. Bei Dad war es leicht. Ich nickte.
    »Magst du ihn?«
    Obwohl mich die Frage nicht verlegen machte, wurden meine Wangen heiß. »Sehr.«
    »Mag er dich?«
    »Sehr.«
    Dad nickte und nahm seinen Schlüsselbund vom Haken neben der Tür. »Das freut mich. Ich werfe schon mal die Klimaanlage im Auto an. Komm nach, wenn du so weit bist, okay?« Er ging hinaus und schloss behutsam die Küchentür – so leise, wie Mom und Delia laut waren. Ich lief wieder nach oben undzog mir etwas an, das nicht ganz so intensiv nach nassem Gras und einer Nacht im Freien roch.
    Gerade als ich mein Handy einsteckte, klingelte es. Ich schaute auf die Nummer, doch sie sagte mir nichts.
    »Hallo?«
    »Hallo.«
    Ich erkannte Lukes Stimme auf der Stelle und erschauerte. Trotz allem. Es war ein angenehmer Schauer. »Du hast ein Telefon?«
    »Jetzt, ja. Es gab noch nie jemanden, mit dem ich hätte sprechen wollen.« Er zögerte. »Willst du denn mit mir sprechen?«
    »Das sollte ich nicht.« Mir fiel ein, dass Dad unten im Auto auf mich wartete, also ging ich auf die Jagd nach frischen Socken. »Aber ich möchte schon. Ich denke die ganze Zeit, du lieferst mir vielleicht endlich eine Erklärung für das, was ich letzte Nacht in deinem Kopf gesehen habe.«
    Schweigen.
    »Ist das die telefonische Version von diesem traurigen Gesicht, das du machst, wenn du mir sagst, dass du mir nichts erzählen kannst?«
    »Ja, ich glaube schon. Ich hatte wohl irgendwie gehofft, du würdest auch sehen, womit all die … das … die Dinge, die du gesehen hast, zusammenhängen – die andere Seite …«
    »
Gibt
es denn da eine andere Seite?«
    Luke seufzte. »Betrachte dies als weitere telefonische Version des traurigen Gesichts.«
    Ich hatte wichtigere Fragen an ihn, aber meine Neugier siegte. »Was passiert, wenn du mir etwas nicht sagen kannst? Friert deine Zunge ein oder so?«
    Er zögerte. »Es tut sehr weh. Es schnürt mir sozusagen die Kehle zu. Ich weiß nie genau, womit ich es auslösen könnte, also versuche ich, es zu

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