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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Kopf. Ich wandte den Blick ab und versuchte, mich auf mein eigenes Leben zu konzentrieren, doch Lukes Erinnerungen blitzten immer wieder dazwischen auf. Plötzlich wurden mir die Lider schwer, als hätte mich die schlaflose Nacht eingeholt. Am liebsten hätte ich mich gleich hier auf die Straße gelegt und geschlafen, doch ein Teil von mir wusste, dass diese Müdigkeit nicht natürlich sein konnte.
    »Was stimmt nicht mit mir?«, fragte ich mit halb geschlossenen Augen.
    Luke schaute zu mir herüber und seufzte. »Du bist müde?«
    Ich nickte langsam.
    Zum dritten Mal streckte er mir die Hand hin. Ich hätte sie nicht nehmen sollen. Aber es war mir egal. Ich war zu müde, um meine Zweifel und die noch immer aufblitzenden Bilder seiner Vergangenheit zu verarbeiten. Abgesehen davon
wollte
ich seine Hand so gerne nehmen. Also tat ich es. Er legte die Finger um meine und führte mich die Straße entlang nach Hause wie ein kleines Kind.
    »Hast du schon mal von Seelenvampiren gehört? Von Menschen, die anderen ihre psychische Energie rauben?«
    »Äh, nein.«
    »Die
wünschen
sich, sie könnten so sein wie Eleanor, wenn sie groß sind. Für diesen Verschwindetrick muss sie eine Menge Energie verbraucht haben. Ich hatte mich schon gewundert, von wem sie die hatte.«
    Ich stolperte und richtete mich wieder auf. »Warum bist du nicht so erledigt? Warum nur ich?«
    »Weil es bei dir leicht war. Und weil sie dir weh tun wollte.«
    Er sagte noch etwas, aber ich hörte nicht hin. Mittler weileschlief ich im Stehen ein. Luke ließ meine Hand los, und ich sank augenblicklich auf die Straße nieder, erleichtert, mich endlich hinlegen zu können.
    »Nein, hübsches Mädchen. Komm mit.« Er beugte sich über mich und hob mich hoch, als wäre ich federleicht. Der winzige Teil von mir, der noch wach war, flüsterte:
Du kannst ihm nicht trauen. Sag ihm, dass er dich wieder runterlassen soll.
Doch ich ließ das Gesicht an sein weiches schwarzes Hemd sinken und mich von seinem vertrauten Geruch einlullen mit dem Gedanken, wie schön es wäre, wenn das Leben genauso einfach sein könnte.
     
    Erst als ich die kalte, klimatisierte Luft auf meiner Haut spürte, wurde ich einen Moment lang munterer. Er hatte mich schnurstracks ins Haus getragen, vorbei an Rye, der sich knurrend auf dem Küchenboden duckte, und die schmale Treppe hinauf. Dass mich die Vorstellung, Mom könnte uns erwischen, nicht mit einem Satz aus seinen Armen springen ließ, war ein Beweis dafür, wie sehr Eleanor mich ausgelaugt hatte. Und es überraschte mich auch nicht, dass Luke offenbar wusste, wo mein Zimmer war. Er schlich so leise durch die Tür wie rieselnder Schnee in der Nacht.
    Vorsichtig legte er mich aufs Bett und zog mir die Decke über. Es fühlte sich nach zwei Nächten auf der Couch himmlisch an – kühl und weich. Luke kniete sich hin und sah mir ins Gesicht, während ich mit halbgeschlossenen Augen zu ihm hochsah. Seine Miene war nachdenklich, und die Spur getrockneten Blutes auf seiner Wange war unverändert.
    »Habe ich jetzt alles vermasselt?«
    Ich blinzelte langsam, und ein Bild von ihm, wie er lachend mit einem Hund spielte, der Rye sehr ähnlich sah, flackerte hinter meinen Augenlidern auf. Ich war nicht sicher, ob ichlaut antwortete. »Ich weiß es nicht.« Ich konnte mir keinen Weg vorstellen, diese Frage zu beantworten, solange ich nicht wusste, warum er all diese Menschen ermordet hatte.
Zack
. Ein Bild von seinen Fingern, die sich um den Armreif krallten und daran zerrten.
Zack.
Wieder der Luke im Hier und Jetzt, dessen Finger mir nah genug waren, um mich zu berühren, es aber nicht taten.
    »Siehst du immer noch meine Erinnerungen?«
    Mühsam schlug ich die Augen auf und nickte, ohne den Kopf vom Kissen zu heben.
    Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich sehe deine auch.«
    »Ich habe wirklich Mist gebaut, nicht?«, murmelte ich.
    Er berührte den Blutfleck auf seiner Wange –
mein
Blut – und legte die Stirn an die Bettkante. »Ach, Dee. Was soll ich nur tun?« Die Zeit verstrich unbeachtet. Schlief ich schon?
Zack
. Ein Bild von ihm, wie er sacht meine Wange küsste – vielleicht geschah es auch wirklich. Dann ein leeres Gefühl in der Magengegend, als ich feststellte, dass er verschwunden war.
    Und dann nur noch tiefer Schlaf.

Buch Drei
     
     
     
     
     
    Ich saß in einem grünen Tal
    Mit meiner Liebsten treu.
    Mein liebend Herz stand vor der Wahl
    Zwischen Liebe alt und neu …
    Sacht streicht der Wind über das

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