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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Jahrhunderten des Schlafs den Flug übergeschnappter Bilder auffangen sollen, Gebilde wie vom Geschwindigkeitsrausch ohnmächtige Insekten, und die Spinne, die du warst, muß sich abmühen, hin und her in der Balance zwischen dem Taumel der Völlerei und der präzisen, exakten, mathematischen Gewißheit, daß das Spinngewebe kurz davor war, für immer nachzugeben und sich zu verwickeln, ein Spinnfadenknäuel, ein unbrauchbarer baumelnder Wust, ein nie mehr lösbarer Knoten, für immer verlorene perfekte Geometrien, ein armseliger Klumpen aufgeweichten Gehirns – die stechende Lust, in einem übermenschlichen Rhythmus Bilder zu verschlingen, und der Schmerz dieses Käfigs aus bis zum letzten gespannten Fäden – die Lust und der dumpfe Klang des Zerreißens – die Lust und darin, heimtückisch, die Krankheit – die Lust und darin die Krankheit, die Krankheit und darin die Lust – beide sich im Kokon der Angst gegenseitig verfolgend – die Angst und darin die Lust und darin die Krankheit und darin die Angst und darin die Krankheit und darin die Lust – so kreiselte es in deiner Seele, im Gleichklang mit den auf der Eisenstraße entfesselten Rädern des Zuges – allmächtige perverse Rotation – so kreiselt es in meiner Seele und zermalmt Augenblicke und Jahre – allmächtige perverse Rotation – wer weiß, ob es ein Mittel gibt, sie aufzuhalten, wer weiß, ob sie aufhalten das ist, was getan werden muß – wer weiß, ob wirklich geschrieben steht, daß sie so weh tun muß, – und wo hat sie wohl angefangen, wenn man es wüßte, könnte man vielleicht dorthin zurückkehren, auf den Gipfel des atemberaubenden Abhangs, an den Anfang der Schienen, und ein bißchen darüber nachdenken, bevor man – so kreiselt es wieder in der Seele, allmächtige perverse Rotation – wer weiß, ob sie Kraft ist oder nur vernichtende Niederlage – und selbst wenn sie Kraft und Leben wäre, mußte sie dann wirklich so sein? Eine gründliche, grausame Vernichtung, die in dir aufkeimt – wer weiß, ob es ein Mittel gibt, sie aufzuhalten, oder einen Ort – irgendeinen Ort, wo der Wind dieser perversen Rotation nicht weht, der die Windungen der wachsenden und für immer unumkehrbaren Erschöpfung kräuselt, elender Wurm, der die unerschütterliche Ergreifung der genialsten Wünsche zernagt – die Lust und darin die Krankheit und darin die Angst und darin die Lust und darin die Krankheit und darin die Angst und darin – möge jemand kommen und sie leise aufhalten, sie in einem Winkel siegreicher Stille verstummen lassen, sie für immer im Dreck eines beliebigen Lebens auflösen, das in einer Zeit nunmehr ohne Stunden abgerechnet wird – oder möge er in einem Augenblick ohne Erinnerung Schluß machen – in einem Augenblick – Schluß machen. In den Zügen begann man – um sich zu retten, um die perverse Rotation der Welt aufzuhalten, die einen dort jenseits der Glasscheibe quälte, und um der Angst auszuweichen, und um sich vom Geschwindigkeitsrausch nicht verschlingen zu lassen, der einem natürlich immerzu im Kopf hämmern mußte, zumindest in Form dieser Welt, die in nie zuvor gesehenen Gebilden am Fenster vorbeiglitt, wunderschönen Gebilden natürlich, aber zugleich unmöglichen, denn schon wenn man sich ihnen nur einen Augenblick hingab, setzte das auf der Stelle wieder die Angst in Gang und damit auch jene kompakte, gestaltlose Furcht, die sich, zu einem Gedanken kristallisiert, auf jeden Fall als nichts anderes erwies als der dumpfe Gedanke an den Tod – in den Zügen begann man, um sich zu retten, sich einer akribisch betriebenen Gewohnheit zu widmen, einer übrigens gerade von Ärzten und großen Gelehrten empfohlenen Gepflogenheit, einer unscheinbaren Schutzmaßnahme, naheliegend, aber genial, einer harmlosen Betätigung, konkret und brillant.
    In den Zügen begann man, um sich zu retten, zu lesen.
    Ein perfektes Heilmittel. Die unverrückbare Exaktheit der Schrift wie die Naht eines Entsetzens. Das Auge, das in den winzigen, von den Zeilen diktierten Kehren die klare Abkürzung findet, auf der es dem vom Fenster aufgezwungenen undeutlichen Fluß der Bilder entkommen kann. An den Bahnstationen wurden eigens dafür bestimmte Lampen verkauft – Leselampen. Man hielt sie in der Hand, und sie warfen einen gemütlichen Lichtkegel auf die aufgeschlagene Seite. Das muß man sich vorstellen: Ein Zug in wilder Fahrt auf zwei Eisenklingen, und im Zug ein Winkel zauberhafter Reglosigkeit, streng abgegrenzt durch den

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