Land aus Glas
zwanzigtausend Augen, den einen oder anderen Einäugigen nicht gerechnet. So viele strömten an diesem Tag von überallher nach Rainhill, um sich das Wettrennen des Jahrhunderts anzusehen – ein kleiner, doch beachtlicher Teil der Menschheit, den die Ahnung dorthingetrieben hatte, daß etwas im Gange war, das ihm schon bald die Gehirnwindungen durcheinanderbringen sollte. Sie sahen, wie die Rocket mit fünfundachtzig Stundenkilometern auf der Zielgeraden von Rainhill dahinraste. Aber wie so vieles andere mußte sie das noch nicht weiter verwundern, denn ein Ding mit hoher Geschwindigkeit war doch immer noch ein Anblick, der ihnen wenigstens schon einmal irgendwo begegnet sein mußte, und sei es als einsamer Falke im Sturzflug oder als Baumstamm im Gefalle der Stromschnellen im Fluß oder vielleicht auch als eine in den Himmel gespiene Bombe. Verwirrend war allerdings ein Gedanke, der sie quälte, die einfache Schlußfolgerung nämlich, daß, wenn diese Lokomotive nicht explodierte, die Geschichte sie früher oder später veranlassen würde, dort aufzusteigen – in wilder Fahrt auf dieser Eisenbahn unversehens selbst, sie selbst, zu einem Falken im Sturzflug, zu Baumstämmen und zu in den Wind gespienen Bomben geworden. Und es ist ausgeschlossen, vollkommen ausgeschlossen, daß sie nicht alle, wirklich alle, mit ausnahmsloser, fiebriger und ängstlicher Neugier überlegten: Wie mag wohl die Welt von dort oben aus sein? Und gleich darauf: Ist das nun eine neue Art zu leben oder eine gründlichere und sensationellere Art zu sterben?
Später gab es Antworten in Hülle und Fülle, in dem Maße, wie Schienen in alle Himmelsrichtungen aus dem Boden sprossen und sich Züge in Bewegung setzten, welche, geradezu anmaßend in ihrem brennenden Wunsch, ans Ziel zu kommen, Hügel einebneten und Berge durchbohrten. Die rhythmische Klage der Schienen drang den Menschen ins Ohr, und zugleich erzitterte alles wie vor Anstrengung, wie vor Aufregung – es war wie ein unaufhörliches Ticken, das einem die Seele zersägte. Und am Fenster – am Fenster zogen hinter der Scheibe die Scherben einer Welt vorbei, die zu Bruch gegangen war, fortwährend auf der Flucht, zerstückelt in unzählige Bilder von der Kürze eines Augenblicks und weggerissen von einer unsichtbaren Kraft. »Vor der Erfindung der Eisenbahn pulsierte die Natur nicht mehr: Sie war ein schlafendes Dornröschen«, schrieben sie. Doch erst viel später, mit dem Wissen des Nachhineins. Sie formulierten es poetisch. Gleich nachdem sich Dornröschen die ersten Male von dieser zu sträflicher Geschwindigkeit getriebenen Maschine hatte vergewaltigen lassen, war es gerade die Gewalt, die den Worten und Erinnerungen ihr Gepräge gab. Und die Angst. »Es ist wirklich wie ein Flug, und man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß der kleinste Zwischenfall den sofortigen Tod aller Reisenden verursachen kann.« So dachten sie darüber. Und natürlich mußte in ihrem Kopf unbewußt ein konkreter Zusammenhang zwischen dieser Todesahnung und dem verzerrten Bild entstehen, das die vom Fenster aus und unter Einsatz ihres Lebens betrachtete Welt im ganzen bot. Genau wie bei Sterbenden, vor deren Auge in wenigen Sekunden ein ganzes Leben vorbeizieht und schnell entschwindet. Vor ihren Augen entschwanden Wiesen, Menschen, Häuser, Flüsse, Tiere …
Das muß man sich einmal vorstellen, diese Angst einerseits und dieses Bombardement von Bildern andererseits, oder besser noch: eines – die Angst – im anderen – dem Bombardement – enthalten, wie konzentrische Wellen einer einzigen Beklemmung, quälend zwar, aber auch … so etwas wie ein unvermitteltes Aufreißen der Wahrnehmung, etwas, das den Funken einer brennenden Lust in sich tragen mußte – eine zunehmende Beschleunigung des Wahrnehmungsrhythmus von der langsamen Abfahrt bis zur bedingungslosen Raserei in die Dinge hinein, ein ganzes schwindelerregendes Protokoll von Bildern, die sich ungeordnet anhäufen und in die Augen springen, unheilbare Wunden im Gedächtnis, und Splitter, vorbeiziehende Streifen, Abfolge von Gegenständen, Staub von Dingen – das mußte Lust sein, weiß Gott, »die Intensivierung der Nerventätigkeit«, wie Simmel es genannt hat – es klingt wie ein ärztlicher Befund –, und tatsächlich hat sie den Charakter und den Geruch einer Krankheit, diese Hypertrophie des Sehens und des Hörens – man spannte dir die Netze des Gehirns schmerzhaft bis zum äußersten, wie schlaffe Spinnweben, die nach
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