Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
Morivar ankommen.«
    »Wo?«
    »Hm?«
    »Wo wird dieser Zug ankommen?«
    »Er wird … er wird schon irgendwo ankommen, in einer Stadt vielleicht, er wird in einer Stadt ankommen.«
    »In welcher Stadt?«
    »In einer Stadt, irgendeiner Stadt, er wird immer geradeaus fahren und schließlich in einer Stadt landen.«
    »In welcher Stadt wird dein Zug ankommen, Mr. Rail?«
    Schweigen.
    »In welcher Stadt?«
    »Es ist ein Zug, Jun, es ist bloß ein Zug.«
    »In welcher Stadt?«
    »In einer Stadt.«
    Schweigen.
    Schweigen.
    Schweigen.
    »In welcher Stadt?«
    »In Morivar. Dieser Zug wird in Morivar ankommen, Jun.«
    Da drehte Jun sich langsam um und ging ins Haus zurück. Sie glitt durch das Dunkel der Räume und verschwand. Mr. Rail drehte sich nicht um, er blieb sitzen, den Blick starr auf die ferne Elisabeth gerichtet, und erst nach einer Weile sprach er, aber sehr leise, wie zu sich selbst. Mit dünner Stimme.
    »Liebe mich, Jun.«
    Nichts weiter.
    Etwas, das von weitem betrachtet wie ein beliebiger Ausschnitt aus einem beliebigen Leben aussehen könnte. Ein Mann in seinem Schaukelstuhl, eine Frau, die sich – langsam – umdreht und ins Haus zurückgeht. Ein Nichts. Das Leben prasselt, verbrennt grausame Augenblicke, und in den Augen desjenigen, der auch nur zwanzig Meter entfernt vorüberkommt, ist es nur ein Bild wie jedes andere, ohne Ton und ohne Geschichte. Einfach so. Diesmal allerdings kam Mormy vorbei.
    Mormy.
    Er sah seinen Vater im Schaukelstuhl sitzen und Jun ins Haus zurückgehen. Ohne Ton und ohne Geschichte. Aus jedem beliebigen Kopf wäre es im Nu wieder fortgeglitten, dieses Bild, für immer verschwunden. In seinem blieb es eingegraben wie eine Spur, tief eingeprägt und festgesetzt. Er war sonderbar, Mormys Kopf. Er hatte wohl die sonderbare Veranlagung, das Leben auch von weitem zu erkennen. Das Leben, wenn es stärker als üblich lebt. Er erkannte es. Und stand wie gebannt davor.
    Die anderen sahen, wie alle sehen. Immer eines nach dem anderen. Wie einen Film. Mormy nicht. Vielleicht zogen die Dinge der Reihe nach ordentlich an seinen Augen vorbei, eines nach dem anderen. Aber dann kam eines, das ihn fesselte: Und da hielt er an. In seinem Kopf blieb dieses Bild zurück. Dort angehalten. Die anderen liefen ins Nichts davon. Für ihn existierten sie nicht mehr. Die Welt lief weiter, und er blieb, von einem grellen Erstaunen erfaßt, zurück. Zum Beispiel wurde jedes Jahr auf der Hauptstraße von Quinnipak ein Pferderennen veranstaltet, vom ersten Haus in Quinnipak bis zum letzten, das mochten tausendfünfhundert Meter sein, vielleicht ein bißchen weniger, sie ritten um die Wette, so ziemlich alle Männer aus Quinnipak, jeder auf seinem Pferd, von einem Ende des Städtchens zum anderen, auf der Hauptstraße, die eigentlich auch die einzige richtige Straße war, sie ritten um die Wette, um zu sehen, wer in diesem Jahr als erster das letzte Haus des Städtchens erreichte, jedes Jahr wieder, und es gab natürlich jedes Jahr einen, der am Ende gewann und dann der Sieger des Jahres war. Einfach so. Und natürlich gingen so ziemlich alle hin, um sich das anzusehen, dieses chaotische, laute und fiebernde große Sichfortwälzen von Pferden, Staub und Schreien. Auch Mormy ging hin. Aber er … er sah nur den Start. Er beobachtete den Augenblick, in dem sich die unförmige Masse von Pferden und Reitern ineinander verschlang wie eine glühende, bis ins Unwahrscheinliche zusammengepreßte Spiralfeder, die dann mit aller erdenklichen Kraft in einem Getümmel ohne Richtung und Rang losschnellte, ein Knäuel aus Ungeduld und Körpern und Gesichtern und Hufen, alles im Bauch einer mit Rufen erfüllten Staubwolke, die in der Totenstille ringsumher aufwirbelte, ein Augenblick von zermürbendem Nichts, bevor der Glockenschlag oben vom Kirchturm alles und jeden aus diesem nun schon erdrückenden Zögern befreite und die Schleusen des Wartens öffnete, um die wilde Flut des eigentlichen Wettlaufs freizulassen. Sie ritten los. Doch Mormys Blick blieb zurück: bei diesem Augenblick, der vor allen anderen dagewesen war. Sie schwenkten herum, die vielen Gesichter der Leute, um dem verwegenen Spurt von Mensch und Pferd zu folgen, sie bewegten sich alle gleichzeitig, diese Augen, alle außer zwei: denn Mormys Blick blieb starr auf den Start gerichtet, ein winziges Schielen, in das gemeinschaftliche Schauen gestreut, das dem Wettlauf geschlossen folgte. Es war nämlich so, daß ihm dieser Augenblick immer noch in den Augen, im

Weitere Kostenlose Bücher