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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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»Elisabeth« – »Na hör mal …« – »Elisabeth ist ein Frauenname!« – »Na und?« – »Soweit ich weiß, ist das eine Lokomotive und keine Frau!« – »Und wieso haben Lokomotiven einen Namen, bitte sehr?« – Und wirklich – »Erschreckende Dinge haben immer einen Namen« – »Was sagst du da?« – Und sie kam wirklich – »Nichts, ich meinte nur so« – »Sie haben einen Namen, damit du sagen kannst, daß sie dir gehört, falls sie dir jemand klaut« – Und Elisabeth kam wirklich – »Wer soll dir denn deiner Meinung nach eine Lokomotive klauen?« – »Mir haben sie schon mal die Kutsche geklaut, sie haben das Pferd ausgespannt und nur die Kutsche genommen« – Und Elisabeth, dieses eiserne Ungetüm, kam wirklich – »Da muß man wirklich schon ganz schön bescheuert sein, wenn man sich die Kutsche und nicht das Pferd klauen läßt!« – »Also ich anstelle des Pferdes wäre beleidigt gewesen« – Und Elisabeth, dieses eiserne und schöne Ungetüm, kam wirklich – »Es war übrigens ein wunderschönes Pferd« – »So schön, daß nicht mal die Diebe …«. Und Elisabeth, dieses eiserne und schöne Ungetüm, kam wirklich: Auf dem Deck eines Lastkahns vertäut, kam sie still den Fluß herauf.
    Stumm – das war verblüffend. Und langsam, in einer Bewegung, die nicht ihre war.
    Man wird sie mit der Hand aus dem Wasser heben und sie schließlich auf zwei Schienen schleudern, damit sie bei hundert Stundenkilometern ihre Wut entlädt und die Trägheit der Luft bezwingt. Ein Tier, könnte man dann denken. Eine wilde Bestie, irgendeinem Wald entrissen. Die Stricke, die ihr in die Gedanken und in die Erinnerungen schneiden – ein Käfig aus Stricken, der sie zum Schweigen bringen soll. Dazu die sanfte Grausamkeit des Flusses, der sie immer weiter fortbringt – am Ende wird es eine Ferne geben, die ihr neues Zuhause wird – sie wird die Augen aufschlagen und zwei Schienen vor sich haben, damit sie weiß, wohin sie fliehen kann – wovor aber, das wird sie nie verstehen.
    Sie kam langsam den Fluß herauf. Elisabeth. Auf dem Deck eines Lastkahns vertäut. Eine große Plane schützte sie vor Sonne und Blicken. Niemand konnte sie sehen. Doch alle wußten, daß sie wunderschön sein würde.

 
Drei
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    … denken, empfänden die Rührung …

1
     
    »Ihr Orchester hat herrlich gespielt, Pekisch, wirklich … es war wunderschön.«
    »Danke, Mr. Rail, danke … Der Zug war auch wunderschön, ich meine, das ist eine tolle Idee, eine großartige Idee.«
    Elisabeth kam am ersten Tag im Juni an, von acht Pferden die Straße hinaufgezogen, die vom Fluß nach Quinnipak führte, was – wenn man wollte – als Sinnbild für irgendeine Theorie über die Dialektik von Vergangenheit und Zukunft herhalten könnte. Wenn man wollte. Elisabeth zog auf der Hauptstraße von Quinnipak an den staunenden und einigermaßen stolzen Blicken der Einwohnerschaft vorbei. Pekisch hatte zu diesem Anlaß einen Marsch für kleines Orchester und Glockenturm komponiert, der alles andere als klar geriet, denn er war aus der Kreuzung von drei verschiedenen Volksliedern entstanden: Auen der Väter, Es schwindet der Tag und Strahlend soll das Morgen sein.
    »Nur eine Melodie wäre angesichts der Bedeutung der Zeremonie natürlich nicht ausreichend«, hatte er erklärt. Der Umstand, daß niemand widersprochen hatte, darf nicht weiter verwundern, denn seit Pekisch vor nunmehr zwölf Jahren das musikalische Leben des Städtchens in die Hand genommen hatte, hatte man sich sozusagen damit abgefunden, musikalisch abnorm zu sein und allgemein zu Genialität zu neigen. Und obgleich hier und da eine gewisse Sehnsucht nach den alten Zeiten herrschte, als man sich bei ähnlichen Gelegenheiten noch mit dem guten alten Es frohlocken die Scharen begnügte (der unvergessenen Hymne von Pater Crest, die, wie sich erst nachträglich herausstellte, von der fragwürdigen Ballade Wohin das Vöglein fliegt abgekupfert worden war), war man doch nahezu einstimmig der Überzeugung, daß die von Pekisch inszenierten Darbietungen für die Stadt ein wertvoller Anlaß zu stolzer Freude waren. So war es auch kein Zufall, daß zu den verschiedenen Jubiläen, Feiern und Festen die Leute sogar aus den umliegenden Städtchen kamen, um das Orchester von Quinnipak zu hören. Sie brachen morgens an Orten auf, wo Musik einfach nur Musik war, und kehrten abends mit einem Kopf voller Zauberklänge zurück, die dann zu

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